Und Freunde werden wir doch
Unverwandt starrt er auf die geblümte Tapete. Da muß einmal ein Bild gehangen haben, auf einer kleinen rechteckigen Fläche sind die Rosen rosiger, die Frühlingssträußchen noch nicht so vergilbt wie ringsherum. Das Stimmengewirr aus dem Café dringt zu ihm herein. Und je länger er das Blümchenmuster betrachtet, desto mehr entfernt er sich aus der Gegenwart. Eine braungebeizte alte Tür erscheint vor seinem inneren Auge. In das Holz sind Buchstaben, Zahlen und Kritzeleien eingeritzt. Um das Schlüsselloch herum ist das Holz nicht nur heller, sondern auch abgegriffen und abgesplittert. Diese Tür, an die er sich jetzt ohne ersichtlichen Anlaß erinnert, ist die von Onkel Manuels und Tante Hortensias Wohnung. Ronni war nicht oft dort gewesen, aber er fühlt es noch genau: Wenn diese Tür sich öffnete und Tante Hortensia ihn laut und herzlich an ihren Busen drückte, ihn mit gutem Essen verwöhnte, dann war das so wie der Himmel auf Erden.
Onkel Manuel und Tante Hortensia hatten keine Kinder, wahrscheinlich waren sie deshalb so um ihre Neffen bemüht. Onkel Manuel machte immer Scherze und überraschte alle mit Zaubertricks. Nie schien er traurig oder deprimiert zu sein, obwohl er - bevor er verschleppt wurde - schon mehrmals im Gefängnis gesessen war. Sein ganzes Vergehen bestand darin, daß er mit einem ehemaligen Gewerkschaftsführer befreundet war. Bei dem hatten sie einen Brief von Onkel Manuel gefunden. Wie ein Stehaufmännchen überstand er alle Schikanen und Demütigungen - »Für die bin ich nicht mehr als ein gemahlenes Staubkorn«, scherzte er -, bis sie ihn eines Tages eben doch holten.
»Onkel Manuel ist ein Held«, hat Ronnis Vater oft gesagt und sich selbst dagegen als Feigling bezeichnet. El cobarde - der Feigling. Ronni dreht sich um, als wolle er prüfen, ob ihn jemand beobachtet. Bin ich auch ein Feigling? Einfach wegzurennen. Aber ich renne ja gar nicht weg! Entschieden schiebt Ronni das letzte Stück Torte in den Mund, obwohl ihm schon fast schlecht ist.
»Denkst du auch mal an die Zukunft, an futuro e fortuna?« hat Alberto letztes Mal gefragt. »In deinem Alter braucht man Träume, Wünsche!«
Nein, Ronni denkt nicht an die Zukunft, er lebt ja nicht einmal in der Gegenwart. Nach einer Zeit, die wie Niemandsland war - ausgestorben und leer -, stürzt nun die Vergangenheit auf ihn ein, nimmt alles in Beschlag, auch das Heute und Morgen.
Als Ronni aufschaut, sieht er direkt in Albertos Gesicht. Der steht da, trocknet ein Glas ab und beobachtet den Jungen: Ronni grübelt ihm in letzter Zeit zuviel, aber wenigstens scheint er sich bei ihm wohl zu fühlen, sonst käme er nicht so oft her.
»Ronni, kannst du mir helfen?«
Alberto nimmt einen Stapel ovaler weißer Papieruntersetzer, die wie Spitzendeckchen aussehen, und legt sie auf den Tisch. Die kleben an den ausgestanzten Flächen zusammen, und Ronni soll sie voneinander trennen. Er hat das schon öfter gemacht. Er ist immer froh, wenn Alberto ihm etwas zu tun gibt, und scherzt: »Alberto, nix Kinderarbeit!«
Alberto geht sofort auf das Spiel ein und antwortet: »Oh, du nix sein Kind! Du sein starke Mann!«
Ronni und Alberto unterhalten sich manchmal so, wie Deutsche sprechen, die sich mit Ausländern unterhalten. »Du sein Spaghettifresser?« ist einer von Albertos Standardsprüchen. In der ersten Zeit in München hat er solche Sätze oft gehört, er hat sie nicht vergessen. Inzwischen ist sein Deutsch fast perfekt, und er hütet sich, Deutschen gegenüber dieses »Deutsch für Ausländer« zu gebrauchen. Eigentlich kann er nur zusammen mit Ronni so richtig darüber lachen.
Vor Jahren hat Alberto im Spaß mal einen Fernfahrer aus Rosenheim gefragt: »Du sein Itaker?« Als Antwort hatte er dessen Faust im Gesicht. Seitdem weiß Alberto, daß dieses Deutsch wirklich nur Deutschen erlaubt ist.
Ronni macht sich an die Arbeit, während sich Alberto wieder um seine Gäste kümmert. Die hauchzarten Papierdeckchen kleben so fest aneinander, daß man fünf für eines halten könnte. Doch Ronni weiß, daß sich immer noch einmal zwei voneinander lösen lassen, bis schließlich wirklich nur noch ein dünnes Papier übrigbleibt. Wenn er bei Alberto in der Küche sitzen und etwas tun kann, dann sind das die Momente, wo es ihm mal gutgeht. Dann kommt er sich nicht so überflüssig vor, dann ist er entspannt, dann steigt ein bißchen Hoffnung in ihm auf: Alberto hat es ja auch irgendwie geschafft, ganz alleine sogar.
Aber Ronnis Gedanken gehen
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