Und Freunde werden wir doch
diese Sprache, das Temperament, der Klang und die Literatur! Viele wichtige Bücher sind auf spanisch geschrieben worden, aber bei uns leben ja nur Banausen, die nicht einmal wissen, wer Mario Vargas Llosa ist und wo der Popocatépetl liegt.«
Sandra fühlt sich ertappt. Das weiß sie natürlich auch nicht. Und eigentlich interessiert sie sich weniger für sämtliche südamerikanischen Länder und Dichter als vielmehr, na ja, eben für Chile.
Frau Gütlein windet sich in einem behenden Slalom zwischen Schreibtischkante und Bücherregalen durch und geht zielstrebig auf eine Bücherfront zu, die an der Längsseite der Bibliothek aufgestellt ist. Sandra folgt ihr, bereit, den nächsten Redeschwall über sich ergehen zu lassen. Normalerweise vermeidet Sandra es, Frau Gütlein nach etwas zu fragen, weil sie weiß, daß ihr Übereifer keine Grenzen kennt. Aber heute ist Sandra sogar begierig, möglichst viel zu erfahren, von Chile zu erfahren, Frau Gütlein soll ruhig loslegen, und das tut sie auch:
»Spanisch ist eine wunderbare Sprache. Mehr als zweihundert Millionen Menschen sprechen Spanisch, stell dir das mal vor! Sandra, es ist aber mühsam, eine Sprache zu erlernen, wenn man niemanden hat, mit dem man sie sprechen kann, du solltest unbedingt überlegen, ob du nicht jemanden kennst...«
Sandra wird es heiß. Sie ergreift die Flucht nach vom: »Haben Sie auch etwas von chilenischen Autoren, also, ich meine, in deutscher Übersetzung?«
Frau Gütlein ist entzückt über diese Frage: »Aber natürlich, Sandra, sogar eine ganze Menge.« Sie greift gezielt in das zweitunterste Regal und holt nacheinander sieben Bücher heraus. Mit diesem Stapel in den Händen spricht sie sprudelnd wie ein Wasserfall weiter: »Die chilenischen Dichter sind großartig. Allerdings haben ihre Werke oft wenig erfreulichen Ereignisse in ihrem Land zum Gegenstand, sie setzen sich schreibend mit Unrecht und Leid auseinander. Chile hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich und hoffentlich bessere Tage vor sich.
Es gibt übrigens auch eine ganze Anzahl von Deutschen dort. Deutsche, die vor Hitlers Drittem Reich kamen, Deutsche, die während der Zeit des Nationalsozialismus dort Zuflucht fanden, und auch Nationalsozialisten, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Chile gingen. Letztere haben auch in Chile die Diktatur unterstützt. General Pinochet hat diese Deutschen als Militärberater zugezogen. Ich schäme mich dafür, um so mehr, als Chilenen bei uns nicht gerade freundlich aufgenommen werden. Viele hier denken doch: Was wollen die in unserem Land? Sind doch alles Wirtschaftsflüchtlinge ...«
»Sind Ihnen die Bücher nicht zu schwer?« Sandra versucht, in der Atempause zu Wort zu kommen.
»Ja, du hast völlig recht.« Frau Gütlein nickt heftig mit dem Kopf. »Da rede und rede ich, und für dich ist das alles neu und sicher zuviel auf einmal.« Der Bücherberg in ihren Armen beginnt gefährlich zu schwanken. Aber sie erreicht rechtzeitig den Lesetisch und lädt den Stapel dort ab. Da bringt Sandra schnell ihre Frage an:
»Valparaíso ist eine Hafenstadt, oder?«
»Ah, Valparaíso, die Betonung liegt übrigens auf dem í, ein großartiger Ort...« Frau Gütlein zieht einen alten Folianten aus einem Regal und blättert darin, bis sie eine bestimmte Stelle gefunden hat. »Hier, kein Geringerer als Charles Darwin berichtet. Er ging 1834 mit seinem Schiff, der Beagle, in Valparaíso, dem Haupthafen von Chile, vor Anker. Die Ansicht vom Ankerplatz aus ist sehr hübsch. Die Stadt ist unmittelbar am Fuß einer ungefähr eintausendsechshundert Fuß hohen und im ganzen steilen Bergkette gebaut. Die abgerundeten, nur zum Teil mit einer dürftigen Vegetation bedeckten Hügel sind von zahllosen kleinen ausgewaschenen Gräben durchzogen. In nördlicher Richtung hat man einen schönen Blick auf die Anden. Der Vulkan von Aconcagua ist ganz besonders prachtvoll...«
Sie schlägt das Buch zu, holt tief Luft, und fährt gleich fort: »Früher brauchte man Jahre, um an die Westküste Südamerikas zu gelangen. Gefährliche, entbehrungsreiche Jahre! Und heute? Man setzt sich ins Flugzeug, knabbert Erdnüsse, sieht einen Film, schläft ein paar Stunden, steigt dann die Flugzeugtreppe wieder hinunter und merkt kaum, daß man einen anderen Kontinent betritt.
Die Eroberungslust der Europäer ist den Südamerikanern vor vierhundert Jahren zum Verhängnis geworden. In Chile lebten die Araukaner, selbstbewußte, streitbare Indianer. Sie hatten sich erfolgreich
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