Und Freunde werden wir doch
schon wieder auf Wanderschaft. Zu Hause, in Valparaíso, arbeiten wirklich viele Kinder, arbeiten, um leben zu können, von morgens bis abends. Sie putzen Schuhe, fischen Essensreste aus Mülltonnen heraus oder sammeln Pappe und Dosen für ein paar Pesos. Zerlumpt laufen sie herum, keiner kümmert sich um ihre knurrenden Mägen, keiner versucht, ihnen Rechnen und Schreiben beizubringen.
In letzter Zeit soll die Armut noch schlimmer geworden sein, hat Tante Rosalia geschrieben. Nicht zum erstenmal versucht Ronni sich klarzumachen, daß er es dagegen tausendmal besser hat. Die Wohnung ist schön und heizbar, er hat Schuhe und alles, was er zum Anziehen braucht. Lesen und rechnen kann er sowieso. Müßte er nicht dankbar dafür sein? Jeder Straßenjunge in Valparaíso würde sich glücklich schätzen, mit ihm tauschen zu dürfen.
Doch daß Kinder hier nicht auf der Straße spielen können, immer nur leise sein müssen, daß sie sich wie alte Leute benehmen sollen, daß in der Schule Ausländerkinder »eine Belastung« sind, daß kein Mensch Zeit hat, das kennt man in seiner Heimat nicht. Und daß Mama und Papa auch immer nur arbeiten und versuchen, ein paar Mark zu sparen, daß ihre ganze Hoffnung auf ein besseres Leben das Sparkonto ist, wer kann sich das schon vorstellen?
Ronni stöhnt. Das laute Geräusch erschreckt ihn selbst.
»Ach, Quatsch«, sagt er klar und deutlich, drückt den Stapel Papierdeckchen zusammen und steht auf.
10
Mit der Wahrheit ist das so eine Sache. Sagt man sie, bekommt man Ärger, verschweigt man sie, bringt sie einen auch in Schwierigkeiten. Sandra hat es eilig. Eigentlich ist sie erst für Samstag nachmittag mit Hanna verabredet. Aber es gibt zwei gute Gründe, warum sie Hanna noch heute sprechen muß, und zwar sofort.
Mit ihren Büchern unter dem Arm läuft sie über die Wiese. Ihre blonden Haare wippen auf und ab, ihre Wangen glühen. Etwas länger als gewöhnlich klingelt sie bei Voss, und es dauert nicht lange, da summt der Türöffner. Sandra stemmt sich gegen die Haustür, springt die fünf Stufen bis zu Hannas Wohnung hoch und rennt fast Tobias um. Der kommt aus der Wohnung gelaufen, weil er sehen will, wer da ist.
»Sandra, Sandra!« ruft er begeistert und wirft sich ihr an den Hals. Diesen Ansturm hat Sandra nicht erwartet. Sämtliche Bücher rutschen ihr aus dem Arm und fallen klatschend zu Boden. Sandra sieht zu ihren Schätzen hinunter: »Mensch, Tobias, die sind aus der Bücherei!«
Sie versucht, Hannas kleinen Bruder abzuschütteln, allerdings mit wenig Erfolg. Tobias hält sich an ihr fest wie ein Klammeraffe. Aber da ist schon Hanna, die mit einem kurzen, festen Griff ihre Freundin befreit: »Sandra, toll, daß du da bist. Ich hab dir ’ne Menge zu erzählen!«
Tobias wird von der großen Schwester kurzerhand in sein Zimmer geschickt. »Wir haben jetzt was zu bequatschen. Mach mal deine Hausaufgaben!«
Tobias mault. Erstens hat er keine Lust auf Hausaufgaben, und zweitens ist es immer besonders spannend, wenn Hanna und Sandra etwas bequatschen. Wenn sie ihn nicht dabei haben wollen, dann muß er eben vor der Tür lauschen. Da sind sie selbst schuld dran. Ganz scheinheilig sagt er: »Okay, dann mach ich halt meine Hausaufgaben.«
»Einsichtiges Brüderchen«, freut sich Hanna und schiebt Sandra in ihr Zimmer.
»Sag mal, dich hat wohl die Lesewut befallen?« Mit einem Blick auf die Bücher räumt Hanna ihre Sachen beiseite und macht auf dem Sessel Platz für Sandra, aber sie läßt die Freundin kaum zu Wort kommen. So begeistert ist sie über den unverhofften Besuch, daß sie redet wie aufgezogen: »Meine Mutter ist bei Nachbarn, wir müssen uns heute selbst versorgen. Willst du Saft?«
»Nö, gar nichts. Also -«
Doch Hanna ist schneller: »Sandra, ich bin verknallt!«
»Ach, was!«
Eine passendere Antwort kommt Sandra nicht in den Sinn. Ihr Mund ist ganz trocken. Sie fühlt sich plötzlich nicht wohl.
»Wer ist es denn?« fragt sie, aber es klingt spröde. Hanna in ihrer Aufregung bemerkt das nicht. »Jens heißt er, der Freund von meinem Cousin! Die waren bei uns zu Besuch. Süß ist der, sage ich dir, richtig süß! Blonder Lockenkopf, ganz schüchtern benimmt er sich, wird immer gleich rot...«
Sandra läßt ihre Freundin reden und reden, aber sie hört nicht mehr zu. Irgendwie klingt das lächerlich, diese Schwärmerei, denkt sie. Doch gleichzeitig stellt sie fest, daß sie Hanna unrecht tut. Hanna ist eben so, offen und ohne Verrenkungen im Kopf.
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