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Und führe uns nicht in Versuchung

Und führe uns nicht in Versuchung

Titel: Und führe uns nicht in Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vera Bleibtreu
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schien ihn richtig in Fahrt zu bringen. Susanne stellte sich auf einen seiner berühmten Vorträge ein und zückte den Kuli in der Hoffnung, zumindest die Hälfte dessen, was Urs jetzt im Eilzugtempo vorbringen würde, in Schnellschrift zu notieren. Schon ging es los: «Also, womit soll ich anfangen: Versuchung hat immer etwas damit zu tun, daß der Mensch sein will wie Gott, und das hat etwas mit Satan zu tun», meinte Urs Bernhardt begeistert. Susanne war irritiert: «Sie glauben doch nicht an das gehörnte Wesen mit dem Schwefelgeruch, oder?» Urs kicherte. «Was heißt glauben, Frau Hertz, Sie besitzen doch eine Bibel, lesen Sie im Markusevangelium nach: Satan ist der, der Jesus versucht. Wie der aussieht, weiß man nicht, aber theologisch definiert ist der Satan einer, der einem begegnet und der behauptet, daß man gottähnlich sei, und meint, man solle das ausprobieren. Oft weist er deutlich darauf hin, daß man damit auch etwas Gutes tun kann. Jesus zum Beispiel bietet er an, Steine in Brot zu ver wandeln – gar nichts Schlechtes eigentlich, denken Sie mal an das Welternährungsproblem. Jesus weiß allerdings genau, daß er dem Satan gegenübersteht, für Normalsterbliche ist diese Erkenntnis nicht immer so einfach. Wobei bei mir spätestens dann Schluß wäre, wenn mir einer vorschlagen würde, mich von der Zinne des Tempels zu werfen, um auszutesten, ob mich die Engel auch sanft zu Boden tragen. So blöd wäre selbst ich nicht. In der Regel ist es aber schwieriger. Wenn einem ein verlockendes Angebot gemacht wird, weiß man nie so richtig, ob es von Gott stammt oder von Satan, und deswegen muß man genau fragen, ob es von Gott ist oder von dem anderen. Wobei auch Gott selbst versuchen kann, es gibt ja diese Bibelstelle, in der Gott den David versucht, eine Volkszählung durchzuführen, eine spätere Überarbeitung schiebt das dann Satan in die Schuhe. Ich finde, nebenbei gesagt, das zeigt auch, daß Volkszählungen grundsätzlich eine zwielichtige Sache sind. Also, wenn wir in Versuchung kommen und nicht wissen, von wem und warum, dann bleibt uns nur die Bitte, daß Gott uns nicht in Versuchung führen möge. Diese Formulierung im Vater Unser beweist auch, daß die Versuchung immer auch von Gott stammen kann. Man darf sich das also nicht so einfach machen und alles auf den Satan schieben. Das sieht man übrigens auch an Hiob und an Faust. Goethe hat das doch aus dem biblischen Buch Hiob geklaut, diese Idee, daß Gott mit Mephisto wettet. Reicht das fürs erste?» Urs wartete gespannt, offenbar war er mühelos in der Lage, seinen Vortrag auf Wunsch fortzusetzen. Susanne legte den Stift aus der Hand, sie hatte sich fast eine Blase an den rechten Mittelfinger geschrieben. «Ja, danke, das ist eine große Hilfe.» Obwohl sie nicht wußte, wie sie diese neuen Gedanken in eine Beerdigungsansprache umsetzen könnte, aber weiteren Urs’schen Anregungen war sie jetzt nicht gewachsen. «Das nächste Mal warten Sie aber nicht mehrere Jahre, bis Sie mich wieder anrufen», mahnte Urs Bernhardt sie noch scherzhaft. «Und lesen Sie mir doch die Ansprache vor, wenn Sie sie fertig haben», bat er Susanne.

    * * *

    «Schau mal hier», Arne war gerade dabei, den Terminkalender von Vogel zum wiederholten Mal durchzuschauen.
    «Das verstehe ich nicht. In regelmäßigen Abständen, so etwa einmal im Monat, steht hier ‹Bastille›. Ist er da nach Paris gefahren, in die Oper, so häufig?» Tanja schaute Arne fragend an. «Wieso in die Oper?» Arne schüttelte den Kopf. «Tanja, du bist und bleibst eine Kulturbanausin. Die neue Oper in Paris heißt ‹Opéra Bastille›.» «Aha.» Tanja war nicht im mindesten interessiert. Opern ließen sie kalt, die Begeisterung ihres Kollegen für dieses Fach war ihr völlig schleierhaft. Arne runzelte die Stirn. «Aber hier steht ‹Bastille› im August!» Tanja schaute fragend:
    «Warum soll er im August nicht in die Oper gefahren sein?» «Weil im August in der Regel Theaterferien sind, Herzchen. Aber vielleicht haben die in Paris keine Theaterferien, das müßte ich mal nachprüfen.» Arne setzte sich hin, dachte nach. «Aber es ist schon merkwürdig, daß er einmal im Monat nach Paris gefahren sein soll, nur um in die Oper zu gehen.» Tanja gähnte. «Warum denn nicht, das Geld hatte er doch!» Arne schnalzte ärgerlich. «Du hast wirklich keine Ahnung! Die Pariser Oper hat keinen so tollen Ruf! Kein Mensch fährt extra nach Paris, um in die Oper zu gehen. Da gäbe es lohnenswertere

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