Und führe uns nicht in Versuchung
hatte», entgegnete Christian. «Mama war süchtig, wissen Sie. Kokain. Papa auch. Deshalb war ich ihnen auch egal, deshalb haben sie mir auch praktisch nichts hinterlassen, alles, was Mama besaß, ging für Schnee drauf. Und als sie beide nichts mehr hatten, da hat Mama Onkel Steffen besucht und ihm gedroht, sie würde sich umbringen, wenn er ihr kein Geld geben würde.» «Und was war dann?» fragte Tanja gespannt.
«Dann hat Onkel Steffen gesagt, daß sie sich die Suppe eingebrockt habe und sie gefälligst selbst auslöffeln möge.»
«Und dann?» fragte Tanja leise. «Dann», fuhr Christian Vogel fort, «ließ Mama die Autoschlüssel für Onkel Steffens Porsche mitgehen, hat den Wagen geklaut und ist gemeinsam mit Papa mit 180 Sachen auf der A 3 gegen eine Autobahnbrücke am Wiesbadener Kreuz gerast.»
* * *
Susanne hatte lange überlegt, bevor sie sich entschloß, ihren Münsteraner Dozenten Urs Bernhardt anzurufen. Aber sie hatte einfach das Gefühl, sie müßte mit einem intelligenten Menschen über die Bitte des Vater Unsers sprechen, die Steffen Vogels Konfirmationsspruch gewesen war. «Und führe mich nicht in Versuchung», diese Worte gingen ihr nicht aus dem Kopf, und es wollte sich doch keine rechte Ordnung einstellen. Dr. Bernhardts Vorlesungen hatten ihre Gedanken immer beflügelt, und sie brauchte jetzt einfach eine Anregung, es hakte, da war nur Verwirrung und keine Idee, und am nächsten Tag war die Trauerfeier. Bis dahin mußte eine Ansprache auf dem Papier stehen. Im besten Fall würde sie das Gespräch mit Bernhardt auf neue Ideen bringen, auf jeden Fall wäre es eine angenehme Unterbrechung der öden Grübeleien an ihrem Schreibtisch. Sie hatte einfach gute Erinnerungen an ihre Studienzeit in Münster.
In Münster hatte sie für sich persönlich nach langer Suche theologisch den Durchbruch gefunden. Eine Zeit ihres Lebens («Das gehört zur Pubertät») war sie glühende Anhängerin der lateinamerikanischen Befreiungstheologie gewesen. Deren politische Kompetenz erschien ihr jedoch mehr und mehr fragwürdig. Mit roten, heißen Ohren hatte sie sich an den Wälzer «Gott als Geheimnis der Welt» des berühmten Tübinger Theologen Eberhard Jüngel gewagt, aber letztlich geprägt hatte sie dieser hochintelligente, kleine, aufbrausende und witzige Hochschulassistent Dr. Urs Bernhardt in Münster, der die Trinitätslehre mit den Drillingen Tick, Trick und Track aus «Donald Duck» verglich, nie stillstehen konnte, immer irgendeine Musik im Kopf hatte, gerne mit seinen Studenten Bier trank und leider schon verheiratet war. Das hatte Susanne wirklich tief bedauert, auf der anderen Seite konnte sie sich aber auch nicht vorstellen, mit einem Mann zu leben, den sie ständig bewundern müßte. Ihre Ohren wurden fortan bei diesem jungen Wissenschaftler rot, während sie bis aufs äußerste gespannt seinen Ausführungen zur Gotteslehre und Christologie folgte, seine Sprachspiele genoß und manchmal lachen mußte, bis ihr die Tränen kamen. Bei ihm wurde aus der trockenen Wissenschaft Theologie ein lebendiges Gespräch zwischen Gott und Mensch. Während sie seinen Gedankenschleifen folgte und ganz allmählich, ohne daß sie es so recht merkte, zu einer guten Theologin heranreifte, ordneten sich die verwirrenden Glaubenssätze der Theologiegeschichte zu sinnvollen Dialogen.
«Ohne diese Ausbildung würde ich vor jeder Konfirmandengruppe oder Grundschulklasse in die Knie gehen», betonte Susanne immer wieder. «Mit ihr aber gelingt es mir, spielerisch und souverän die Fragen der Kinder ernst zu nehmen. Und Kinder sind geborene Theologen, ihre Fragen sind so tiefsinnig, daß es mir immer weh tut, wenn Erwachsene sie nicht ernst nehmen!» Die Zeit in Münster verleidete ihr dauerhaft jede Lust an trockener Theologie, die sich in historischen Betrachtungen erschöpft. «Glaube ist lebendig, so wie Gott», betonte Susanne immer wieder, «und ich glaube, ER da oben selbst langweilt sich mit den Büchern so mancher Koryphäen zu Tode, es ist ja schon für mich unerträglich.»
In Sachen Theologie war Susanne schon ein bißchen arrogant, sie hatte gleich gemerkt, daß sie das bei einigen älteren Kollegen und der feministisch bewegten Pfarrerin der Christuskirchengemeinde nicht beliebt machte. Ihre bissigen Kommentare über feministisch-theologische Auswüchse («Lila, der letzte Versuch»), politisch-theologische Sentimentalitäten («Ja, damals, als wir im Talar gegen die Startbahn West demonstrierten»)
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