Und führe uns nicht in Versuchung
ist oft in Versuchung geraten in seinem Leben, und ich weiß, daß er Menschen in Versuchung geführt hat. Die Klarheit, die er sich in seinem eigenen Heim schuf, in einem Zuhause ohne Schnörkel, ohne Zierat, die scheint mir ein Weg Steffen Vogels gewesen zu sein, mit der Versuchung umzugehen. In einer genau strukturierten Umgebung fiel es ihm womöglich leichter, präzise hinzusehen, zu unterscheiden. Und darauf kommt es an, wenn wir Menschen der Versuchung begegnen. Denn die Versuchung ist nicht einfach zu erkennen, sie verwirrt. «Führe mich nicht in Versuchung», ich kann mir vorstellen, daß Steffen Vogel dieses Gebet auch oft selbst gesprochen hat und – vielleicht traurig, vielleicht verzweifelt – feststellen mußte, daß seine Bitte nicht immer erfüllt wurde. Am Ende seines Lebens, das wissen wir, wollte er einen neuen Anfang wagen. Er wollte weg, weg aus Deutschland, weg von allem, was ihn hier band, um in Asien ein neues Leben zu beginnen. Mag sein, das war sein Versuch, die Bitte umzusetzen: «Führe mich nicht in Versuchung». Was hier nicht gelang, mochte in einer fremden Kultur, unter Menschen, die mit dem Herzen denken, wie er selbst sagte, besser gelingen. Ob es gelungen wäre? Ich glaube, wir werden an jedem Ort, in jedem Land, der Versuchung begegnen. Ich glaube, wir können nicht fliehen vor den Geheimnissen, den Abgründen unseres Lebens. Ich könnte mir aber vorstellen, daß die Begegnung mit Menschen dieser anderen Kultur uns unbekannte Seiten unserer Persönlichkeit zeigt, weichere, sanftere. Und daß diese Seiten uns helfen, anders mit Versuchungen umzugehen. Liebevoller vielleicht. Und nach sichtiger. Es macht mich traurig, daß Steffen Vogel nicht die Chance hatte, all dies zu erfahren. Ich hätte es ihm gewünscht. Sein grausamer Tod hat sein Leben abgebrochen. Ein Mensch, den wir nicht kennen, hat es nicht ertragen, daß Steffen Vogel lebt. Und ist der Versuchung erlegen, sich selbst zum Herrn über Leben und Tod aufzuschwingen, der schrecklichsten Versuchung, der Menschen erliegen können. Steffen Vogel hat durch ihn den Tod gefunden. Möglicherweise hat er geahnt, daß sein Leben gefährdet war, denn er hat testamentarisch bestimmt, daß seine Asche im Meer vor Thailand verstreut werden soll. Er selbst hat nicht im Land seiner Träume ankommen dürfen. Was ihm nicht gelang, soll seiner Asche vergönnt sein.
Die Rätsel seines Lebens, seine Versuchungen und seine Widerstände, seine Sehnsucht und seine Erfolge, was in seinem Leben gelungen und was verfehlt war, all das geben wir heute zurück in die Hände Gottes, der unsere Herzen und Gedanken kennt und versteht. Vor Gottes Angesicht wird Steffen Vogel das Rätsel seines Lebens verstehen. Ich kann mir vorstellen, daß die Lösung des Rätsels ‹Liebe› heißt. Und ich möchte mir vorstellen, daß unser himmlischer Vater Steffen Vogel liebevoll und sanft in seine Arme schließt. Amen.»
Susanne schwieg. Ihre Worte klangen in der kargen Halle nach, es war, als ob sich die Atmosphäre der Trauerhalle verändert hätte, die Menschen wirkten nachdenklich, bewegt. Erstaunt bemerkte Susanne, daß sich Dr. Brandes von Mainz-Glas die Tränen aus den Augen wischte. Orgelmusik erfüllte den Raum. Dann erhob sich die Gemeinde zum Gebet. Susanne schien es, als ob alle die Worte des Vater Unsers bewußter mitsprachen: Führe uns nicht in Versuchung. Nach dem Segen trat Christian Vogel an den Sarg seines Onkels. Er schluchzte auf, als er eine weiße Rose vor dem Sarkophag niederlegte.
Nach und nach kamen die Menschen nach vorne, um sich vom Sarg zu verabschieden. Tanja beobachtete einen Herrn mit eisgrauen, kurz geschnittenen Haaren in einem schwarzen Anzug, dem man den ausgezeichneten Schnitt noch auf die Entfernung ansah, der zunächst gefaßt an den Sarg trat und dann ganz offensichtlich einen Moment Mühe hatte, seine Tränen zurückzuhalten. Er gab sich einen Ruck, verbeugte sich fast militärisch knapp und wandte sich dann dem Ausgang zu. Tanja ging ihm nach.
«Herr Jacobi?», sprach sie ihn fragend aus einem Impuls heraus an. Der Mann schaute sie überrascht an. «Ja, bitte? Kennen wir uns?» Er runzelte die Stirn. «Mein Name ist Tanja Schmidt, Kriminalpolizei. Herr Jacobi, wir suchen Sie seit Tagen, um Sie in der Sache Vogel befragen zu können», sagte sie mit einem leichten Vorwurf in der Stimme.
«Davon wußte ich nichts», entgegnete Jacobi kühl. «Ich komme gerade aus Südafrika zurück.» In der Tat waren Jacobis Gesicht
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