Und führe uns nicht in Versuchung
schimpfte Tanja. Jetzt war Susanne wirklich beleidigt. «Hör mal, ich kann nichts für deine Geschichte mit Jacobi und deine schlechte Laune, ich hab mit Jens und mir gerade genug zu tun und will eigentlich schon die ganze Zeit zum Schwalbacher Hof, um ihn abzuholen, sonst hat er nämlich schlechte Laune, und wenn du jemanden als Punchingball brauchst, dann geh zum Boxen.» Tanja war geknickt. «Bitte sei nicht sauer, Susanne. Meine Nerven liegen wirklich blank. Aber erzähl doch noch mal, wie das mit diesem Quartettspiel war.» Susanne seufzte. Sie konnte Tanja nicht wirklich böse sein, aber es war schon spät, und sie wollte unbedingt mit Jens noch einen Absacker trinken. «Die haben sich die Zahlen einfach nur um die Ohren gehauen», erzählte sie Tanja, «das ging so schnell, da kamst du gar nicht mit. ‹1969: Erste Mondlandung, 1495: Kolumbus entdeckt Amerika, 2006: Susanne Hertz entdeckt das Ei des Kolumbus.› So in etwa. Sei mir nicht böse, aber ich will jetzt zu Jens. Bist du weitergekommen?» Tanja zögerte. «Nicht ganz, aber ich weiß, ich bin nah dran.»
* * *
Es muß eine Lösung geben. Ein Land, in dem ich leben kann. Jemand wie ich kann doch überall einen neuen Anfang wagen. Andere haben das ja auch geschafft, warum sollte mir das nicht gelingen? Und es gibt ihn bestimmt, diesen friedlichen Ort, an dem niemand weiß, woher ich komme und wer ich bin. Ich werde ein Häuschen kaufen, vielleicht eine Familie gründen. Wenn sie mich fragen, was früher war, werde ich schweigen, den Finger auf den Mund legen, vielleicht lächele ich sogar dabei. Ich weiß dann, es ist alles gut, es ist alles überstanden. Morgens gehe ich als erstes ans Meer – ja, es sollte ein Ort am Meer sein, ein kleines Dörfchen mit weißgestrichenen Häuschen und einfachen Menschen, die mir wohlgesinnt sind – und schaue mir den Sonnenaufgang an. Ich atme die gute Luft und weiß mit jedem Atemzug: Ich bin frei, ich bin befreit. Keine Stimmen, keine Schmerzen, keine quälenden Erinnerungen mehr. So wird es sein. Ich werde diesen Ort finden. Und ich werde arbeiten, mit meinen Händen arbeiten, und ich werde meine Hände ansehen und nicht an diese anderen Hände mehr denken müssen. Sondern ich werde mich freuen, daß ich lebe. An einem Ort des Friedens. Am Meer.
* * *
Im Schwalbacher Hof waren alle Gäste gegangen. Jens und Susanne hatten sich an einen kleinen Tisch gesetzt. Der Tisch war schon abgeräumt, Susanne hatte ihr Glas Weißburgunder auf das blanke Holz gestellt. Sie mochte diesen Wein eiskalt, eigentlich zu kalt für jeden guten Weinkenner, aber bei Weißburgunder war sie eigen. Der kühle Wein beschlug das Glas, Susanne malte gedankenvoll Schleifen und Herzchen auf den Kelch. Jens hatte sich einen Gin Tonic eingeschenkt, ein privates Ritual. Er beschloß jeden Abend mit einem Gin Tonic. «Auf dich, Schatz», sagte er und trank Susanne zu. «Auf dich», antwortete Susanne mechanisch. Es ging ihr nicht gut. Sie spürte immer deutlicher, daß mit ihr und Jens etwas schieflief. Wo es zuvor eine selbstverständliche Übereinstimmung zwischen ihnen gegeben hatte, einen Einklang, der sie tief beglückt hatte, war Schweigen eingekehrt. Susanne spürte nicht mehr, was Jens dachte. «Es ist, als ob er sich vor mir verschließt», dachte sie traurig und merkte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. «Jetzt bloß nicht weinen», sie biß sich auf die Zunge, um ihre unglücklichen Gedanken zu unterbrechen. Jens nippte an seinem Gin Tonic. Seine Augen schweiften durch das Lokal, er sah Susanne nicht an. «Wie lief es heute?» fragte Susanne tapfer. «Sehr gut», antwortete Jens zerstreut. «Alle Tische waren besetzt.» Er schwieg. «Vielleicht ist er einfach erschöpft», dachte Susanne. Aber war Jens früher so erschöpft gewesen, wenn im Schwalbacher Hof alles bestens gelaufen war? Er hatte nach einem erfolgreichen Abend sonst strahlend gewirkt, wie elektrisiert. Die Anstrengungen des Tages waren ihm dann kaum anzumerken gewesen, oft lud er Freunde noch zu einem Absacker ein, um den Erfolg eines Abends zu feiern. Diese Spontan-Partys hatte die zurückhaltende Susanne immer sehr geliebt. Sie war als Jens’ Freundin wie selbstverständlich in die fröhliche Runde einbezogen und genoß die unbeschwerte Atmosphäre, die sich ganz natürlich entwickelte. Sie mußte als Pfarrerin oft genug für gute Stimmung sorgen, war verantwortlich für das Gelingen einer Veranstaltung. An diesen Abenden konnte sie einfach dabeisein und
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