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Und im Zweifel fuer dich selbst

Und im Zweifel fuer dich selbst

Titel: Und im Zweifel fuer dich selbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Rank
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unerhörte Neuigkeit wäre, die Lene mir da mitzuteilen hatte, nahm ich mir in Gedanken vor. Links von mir lag die Polizeiwache, davor schlief ein Polizist in seinem Streifenwagen. Eine Straßenbahn bimmelte sich aus Langeweile durch die menschenleeren Straßen, mir lief der Rotz in Richtung Oberlippe. Ich musste kämpfen, um den Hügel hinauf zu kommen, die schlingernden Kurven zum Aussichtspunkt, über die nassen Blätter mit kalten Fußsohlen. Jetzt schon musste ich an das Gefühl denken, in einen warmen Raum zu kommen, und daran, wie unangenehm es kribbelte und juckte, wenn Ohren und Hände rot anschwollen. Ich hasste dieses Gefühl, ich hasste diese sich ausbreitende Wärme, weil sie mir Schweißausbrüche verursachte, weil sie mich dazu brachte, mir die eigenen Haare ausreißen zu wollen, weil es so juckte. Außerdem hatte ich Angst auszurutschen und mit dem Gesicht auf dem nassen Boden zu landen oder mir kleine Kiesel bei der Landung in die Handflächen zu bohren. Ich überlegte, ob ich beim Verlassen der Wohnung die Heizung aufgedreht hatte.
    Oben angekommen schwitzte ich am Rücken, meine Finger waren immer noch eiskalt, ich war schlecht gelaunt und müde. Lene saß auf einer Mauer an der einen Stelle, die nicht total zugewachsen ist und an der man auf die Stadt, auf die paar Plattenbauten blicken und den Rest vomPrenzlauer Berg erahnen kann. Ich erschrak vor ihrem roten Mantel. In ihren vor dem Bauch verschränkten Händen hielt sie ein paar der gelben Blätter, als ich keuchend neben ihr auf die Mauer kletterte. Bedächtig zupfte sie die spitzen Ränder zu runden Kanten und blickte nicht auf. Sie sagte nichts, und ich konnte nichts sagen, weil ich so schnaufte, weil ich nicht gerne absteige, wenn es bergauf geht. Mein Vater nannte das Aufgeben früher, er gab nie auf, also riss ich mich zusammen und kämpfte mich im Stehen die meisten Berge hinauf. Einmal hatte ich mir auf die Lippe gebissen, sie fing an zu bluten, und oben stand meine Mutter neben dem Wagen, auf den mein Vater unsere Räder schnallte, und erschrak vor den roten Flecken auf meinem T-Shirt und meiner kurzen Hose. Ich hatte davon nichts gemerkt und fing erst an zu weinen, als sie anfing, die Flecken zu verreiben. Ich war so müde.
    »Ich habe mich verliebt«, sagte Lene und schaute nicht auf.
    Ich wollte sensibel sein, ich wollte wirklich nett sein und einfühlsam, ich wäre gerne fröhlich gewesen und hätte juchzend im Kreis getanzt, aber es war nicht viel, was ich herausbrachte, während ich mir die Hände rieb. »Wie jetzt?« Und Lene hob den Kopf und starrte lächelnd in die nasskalte Badekappe der Stadt, während ich das Gefühl in meinem kleinen Zeh verlor.

    Man rechnet nicht damit und ich hatte Angst, es würde von uns nichts übrig bleiben. Dass uns die Sonne und dieSituation mit Messer und Gabel aufessen würden, erst in kleine Stücke zerteilen und dann gemütlich auf den breiten Kauflächen zermalmen. Wir waren zwischen die Mühlen gekommen, das System hakte irgendwie, wir stemmten unsere Beine mit aller Kraft gegen die Wände des Autos, unsere Muskeln waren zum Zerreißen gespannt, man sah nur nichts davon. Das passierte alles woanders.
5
    Ein Lastwagen habe Tim überfahren, erzählte Lene. Als er die Kreuzung schräg überqueren wollte, toter Winkel, was auch immer, so genau habe sie dann auch nicht mehr gefragt. »Es ändert nichts«, flüsterte sie, starrte durch ihr Seitenfenster und zwirbelte eine Strähne zwischen zwei Fingern. Tims Eltern hätten am Morgen angerufen, als sie am Frühstückstisch auf ihn wartete. Das sei alles sehr schnell gegangen, er sei noch an Ort und Stelle gestorben – und ich dachte an die U-Bahn-Trasse über der Straße, an die Sparkasse an der Ecke, an die Straßenbahnschienen und das Café, in dem wir oft saßen und die Leute beobachteten, die ihre neuen Schuhe auf der Kastanienallee spazieren führten. Ich hatte noch nie einen Unfall beobachtet, aber schon hundertmal diese Filme im Kopf abgespult, wenn Krankenwagen mit ohrenbetäubendem Lärm an mir vorbeigesaust waren. Die Schuld des Lastwagenfahrers sei es nicht gewesen,berichteten Tims Eltern Lene am Telefon. Und ich wunderte mich, wie man es schaffen konnte, in einer solchen Situation über Schuld zu sprechen. Lene schüttelte lautlos den Kopf und wischte sich die Hände an ihrem Kleid ab, zupfte ein paar Fussel herunter mit glasigen Augen. »Irgendwann musste ich auflegen, weil sie sonst immer weiter geredet hätten, glaube ich«,

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