Und im Zweifel fuer dich selbst
es nicht funktionierte, wie er sich das vorgestellt hatte. Gerade wollte ich von ihm nichts erklärt bekommen und keineweisen Ratschläge, ich wollte nicht wissen, was jetzt wohl das Beste sei, weil es hier nichts Gutes gab, nicht einen kleinen Fetzen. Ich konnte niemanden gebrauchen, der mit seiner Rationalität alles überdecken wollte, was nicht zu überdecken war. Jedes Wort, so glaubte ich, wäre sowieso in die Lücke zwischen uns gefallen.
»Kannst du dich noch erinnern, als Friedrich und ich für ein Wochenende nach Kopenhagen wollten?«, fragte ich Lene. Sie stand auf, ging um den Wagen herum und kehrte mit einem Joghurt in der Hand zurück. Den Joghurtdeckel warf sie ins Gras, dann nickte sie. »Er ist damals vor dem Parkhaus total durchgedreht«, erzählte ich weiter. »Wir sind über diese Poller gefahren, es hat ein bisschen geknackt, irgendetwas hat ein komisches Geräusch gemacht, ein bisschen gequietscht vielleicht. Ich hätte die Parkhauswand gestreift, meinte er. Ich war mir sicher, dass das nicht der Fall war, aber er stieg aus und wollte mir einreden, dass da diese Schramme sei, die es vorher noch nicht gegeben habe.« Ich setzte mich zu ihr, steckte meinen Finger in den noch kühlen Erdbeerjoghurt. Auf dem Weg in den Mund tropfte er mir auf die Hose. »Er hat darauf bestanden, wieder reinzugehen und das zu melden. Sofort. Nichts hätte ihn davon abbringen können. Und ich bin ihm gefolgt, schließlich bin ich gefahren. Aber er nahm mir den Schlüssel aus der Hand und marschierte zurück ins Büro der Autovermietung, ich kam kaum hinterher vor Empörung. Als ich dazustieß, sagte er gerade, er habe den Wagen gefahren. Und ich musstedazwischengehen und sagen, dass ich gefahren bin – und die haben sich das angeschaut, in den Papieren einen Vermerk gemacht, und alles war kein Problem. Bis nach Rostock hat er kein Wort mehr mit mir gesprochen. Und die Fähre haben wir auch verpasst.« Lene hängte den leeren Joghurtbecher an einen Zweig, der vom Boden aufragte, und sagte: »Friedrich geht nie ein Risiko ein.« Sie machte eine kurze Pause, und ich schloss die Augen. »Manchmal tut er wie ein Stagediver, der sich nicht traut zu springen.« Als ich die Augen wieder öffnete, tanzten vor ihnen winzige weiße Fliegen. So dicht und flirrend, als hätte ich einen Sehfehler. Ich hatte immer gedacht, ich würde mich in Menschen nicht verstolpern. Mit dem Hinterkopf lehnte ich an der Karosserie des Wagens, es fühlte sich beinahe an wie eine warme Hand.
»Es ist so laut in mir drin, ich habe das Gefühl, ich platze jeden Moment.« Lene schnipste mit dem Finger in einem schnellen Takt immer wieder gegen den Joghurtbecher. »Ich habe Angst. Ich habe plötzlich vor so vielem Angst, dass ich glaube, ich werde verrückt, wenn das nicht bald weggeht. Ich kenne das nicht, das ist neu, dass ich nicht weiß, wohin mit mir. Es klingt vielleicht bescheuert, aber es rattert die ganze Zeit, ich kann gar nichts dagegen tun. Das Denken an früher und dass jetzt auch vorgestern schon zu früher gehört und wie er gerochen hat und dass ich sofort alles vergesse, dass jetzt schon alles verschwimmt und ich mir selbst so leid tue und seine Eltern und sein Bruder und dass ichnicht weiß, wie ich mit so einer Angst jemals wieder zurückfahren kann oder in meinem eigenen Bett schlafen oder studieren gehen oder irgendetwas.« Sie sagte das ganz ruhig, aber mir standen sofort Tränen in den Augen. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Für ein paar Sekunden glänzte ihre Haut. »Ich habe Angst davor, dass ich Tim nicht richtig kannte. Dass ich mich vielleicht geirrt habe in dem, wie er war. Dass er vielleicht ganz anders war und ich es nicht mitbekommen habe. Das kann doch sein.« – »Du kanntest ihn so, wie du ihn kanntest«, sagte ich. »So kannte ihn niemand.« Ich legte meinen Kopf auf die Knie, in meinem Blick nur Jeans und Haare und Gras und manchmal zwei Fliegen. Es war so still, dass ich dachte, Lene habe sich vielleicht in Luft aufgelöst. Und als ich aufschaute, um mich zu vergewissern, da war sie woanders, da lag ihr Blick auf dem Waldrand, da zuckte nichts in ihrem Gesicht, es sah aus wie photographiert, sie rührte sich nicht und vielleicht atmete sie auch nicht, bis sie mich plötzlich unverwandt ansah und erzählte, wie sie sich einmal, in ihrem ersten Winter, morgens am Alexanderplatz getroffen hatten. Sie stiegen in Lenes Auto, und der Nebel des Morgens verzog sich langsam, als sie aus der Stadt
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