Und immer wieder Liebe Roman
Fächer, über die eigentümlicherweise sogar der Vater hinweggeht.
»Das Abitur wird beim ersten Anlauf bestanden, keine Diskussion, es gibt keine Wiederholungen. Halt dich ran und hol mindestens siebzig Punkte. Wir haben einen Vorschlag, den wir dir noch vor dem Endspurt unterbreiten wollten.«
»Was für einen Vorschlag?« Er reißt die Augen auf und zündet sich unter dem verächtlichen Blick seines Vaters eine Zigarette an. Michele hat nie in seinem Leben geraucht, nicht einmal, als alle geraucht haben.
»Du hast dich noch nicht entschieden, ob du studieren oder lieber arbeiten möchtest, und weil wir keinen Sohn wollen, der mit dreißig noch bei den Eltern auf dem Sofa herumlümmelt, darfst du ein Jahr ins Ausland gehen. Dann kannst du deine Zukunftspläne wenigstens auf Englisch klären.«
»Ins Ausland gehen? Wie, jetzt?«, stottert er misstrauisch.
Mattia, der erwartet hatte, wir würden ihm Moralpredigten darüber halten, dass man heute ohne Studium nicht weit kommt, starrt uns immer noch an. Offenbar weiß er nicht, ob er uns für demokratische Wohltäter halten soll oder für Folterknechte, die ihn aus dem Haus jagen. Dass dieses Angebot eine – für uns – außerordentlich kostenintensive Lebenserfahrung ist, die er einfach »mitnehmen« kann, ist ihm nicht ganz klar.
»Die einzige Bedingung: Du darfst nicht nach London oder New York. Da haben wir zu viele Freunde, und du würdest die ganze Zeit Italienisch sprechen. Ich könnte mir Sydneyvorstellen. Da gibt es Meer und Wolkenkratzer, Natur und Zivilisation. Das wäre eine einzigartige Erfahrung für dich. Und vor allem scheint dort immer die Sonne.«
Die beiden sehen mich überrascht an – aber ich habe eben schon seit Wochen darüber nachgedacht.
»Spitzenmäßig, ihr seid Klasseeltern. Gebt mir zwei Tage Bedenkzeit.«
Zwei Tage. Wenn mir vor dreißig Jahren jemand einen solchen Vorschlag unterbreitet hätte, hätte ich vor Begeisterung einen Luftsprung gemacht: Frei und weit weg von zu Hause sein zu können – noch dazu mit dem nötigen Kleingeld... was hätte
es da groß zu überlegen geben? Mein Sohn aber muss erst einmal nachdenken. Was bedeutet, dass er mit Emanuela reden muss, seiner »festen« Freundin. Sie hat nämlich bereits beschlossen, sich in Mailand für Jura einzuschreiben und den bequemen Weg von Häuslichkeit plus Universität einzuschlagen. Ein Jahr ohne sie bedeutet für Mattia ganz offensichtlich ein Risiko, und an der Gefühlsfront kommt mein Sohn ganz nach mir. Er hat panische Angst davor, nicht geliebt oder gar vergessen zu werden, als wäre es möglich, einen so hübschen und sympathischen Jungen einfach zu vergessen. Aber ich rede aus Sicht der Mama, und mein Urteil ist nicht maßgeblich. Kaum haben sie die restlichen Thunfischbrötchen verputzt, sind die Männer meines Lebens auf und davon. Ich tröste mich mit Federico. Was würde ich ohne seine schöne Schrift machen?
New York, den, 30 Mai 2002
42 W 10 th St
Liebe Emma,
schließ die Augen.
Stell Dir vor, Du hörst meine Stimme und spürst meine Gefühle. Stell Dir vor, Du bist mit mir in Charles Follen McKims Marmor eingeschlossen – wir beide inmitten der Renaissance-Architektur, wo sich Disziplin und Opulenz sanft vereinen. Steig mit mir die Treppe zum Bronzetor dieser Bibliothek empor, vorbei an den beiden Löwinnen des Bildhauers Edward Clark zu beiden Seiten der Treppe, diesen stummen, zahmen Sphinxen. Verweile mit mir in Morgans Büro, an diesem paradoxen Ort, der intim und überladen gleichermaßen ist, und halte meine Hand. Stell Dir vor, dass wir allein sind, so wie auch er es angeblich oft war, wenn er Patiencen gelegt hat, um mit seinen in regelmäßigen
Abständen auftretenden Depressionen fertigzuwerden. Wir entweihen das Zimmer, in dem am 24. Oktober 1907 ein Mann die Vereinigten Staaten vor dem Bankrott bewahrt hat – die Börse kollabierte, und die Sparer besetzten die Kreditinstitute, um ihr Geld wiederzubekommen. In einem Land, das keine Kredite mehr zu vergeben hatte, behielt ein Mann die Nerven: John Pierpont Morgan. Dutzende von Pilgern klopften auf der Suche nach einer Lösung an diese Tür. J. P. M. bat sie einzutreten, hörte ihnen zu, unterschrieb Schecks für die Broker von der Börse, telegrafierte seinen Partnern in der Londoner City und ließ in England die Lusitania mit einer kostbaren Fracht auslaufen: Goldbarren. Amerika war gerettet. Fast neunzig Jahre später riechen wir nur noch den Geruch von Holz und
Weitere Kostenlose Bücher