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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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sie mit zitternden Händen. Sie enthielt Papiere und Fotos unserer Familie. Alles war auf Russisch, und mir sank das Herz. Als ich mich zu Andrius umdrehte, entriss er mir die Akte.
    »Bitte«, flehte ich. »Erzähl mir, was darin steht.«
    »Bist du wirklich so egoistisch? Oder nur dumm? Sie werden dich und deine Familie töten«, sagte er.
    »Nein.« Ich packte seinen Arm. »Bitte, Andrius. Vielleicht enthält sie einen Hinweis auf meinen Vater. Dann könnte ich ihn finden. Du hast ihn doch im Zug gehört. Ich möchte ihm meine Zeichnungen schicken. Ich will nur wissen, wo er ist. Ich … ich weiß, dass du das verstehst.«
    Er starrte mich an, dann öffnete er die Akte. »Ich kann Russisch nicht gut lesen.« Er überflog die Unterlagen.
    »Was steht drin?«
    »Akademiestudenten«, sagte er mit einem Blick über die Schulter. »Das hier heißt ›Künstlerin‹. Damit bist du gemeint. Dein Vater«, fügte er hinzu und zeigte auf ein Wort.
    »Ja?«, fragte ich. »Was ist mit ihm?«
    »Sein Aufenthaltsort.«
    Ich drückte mich an Andrius. »Wo ist er?«
    »Krasnojarsk. Gefängnis.«
    »Papa ist in Krasnojarsk?« Ich hatte Krasnojarsk auf der Karte eingezeichnet, die ich für den NKWD kopiert hatte.
    »Das hier bedeutet ›Vergehen‹ oder ›Anklage‹«, sagte er und zeigte auf einen Absatz. »Angeblich ist dein Vater …«
    »Was denn?«
    »Ich kenne das Wort nicht«, flüsterte Andrius. Er klappte die Akte zu und steckte sie in seinen Mantel.
    »Was steht noch drin?«
    »Das ist alles.«
    »Kannst du herausfinden, was das Wort bedeutet? Das, mit dem Papa bezeichnet wird?«
    »Und wenn sie mich hiermit erwischen?«, fragte Andrius, der plötzlich zornig klang.
    Ja, was, wenn sie ihn erwischten? Was würden sie ihm antun? Er wollte gehen, aber ich hielt ihn am Mantel fest. »Danke«, sagte ich. »Tausend Dank.«
    Er nickte, dann entwand er sich.

57
    Mutter freute sich über die Nahrungsmittel. Wir beschlossen, fast alles sofort zu essen, falls der NKWD es zurückfordern würde. Die Sardinen aus der Dose schmeckten köstlich und waren die kleine Beule auf meiner Stirn mehr als wert. Das Öl lag seidig auf meiner Zunge.
    Mutter gab Uljuschka eine Kartoffel ab und lud sie ein, mit uns zu essen. Sie wusste, dass Uljuschka keine Meldung wegen der Nahrungsmittel erstatten würde, wenn sie etwas davon abbekam. Ich fand es trotzdem unerträglich, dass wir mit ihr teilten. Sie hatte den kranken Jonas aus der Hütte werfen wollen. Sie bestahl uns skrupellos, gab nie etwas von ihrem Essen ab und futterte vor unseren Augen Ei um Ei, aber Mutter wollte unbedingt mit ihr teilen.
    Ich machte mir Sorgen um Andrius. Hoffentlich hatte er die Akte unbemerkt zurücklegen können. Und was bedeutete das Wort, auf das er gezeigt hatte? Hieß es wirklich »Anklage« oder »Vergehen«? Ich konnte nicht glauben, dass Papa etwas Unrechtes getan hatte, und zerbrach mir den Kopf darüber: Frau Raskunas hatte an der Universität mit Papa zusammengearbeitet; sie war nicht verhaftet worden, und sie hatte unsere Deportation durch ein Fenster beobachtet; also hatte man gewisse Universitätsmitarbeiter verschont; warum nicht auch Papa? Ich hätte Mutter gern erzählt, dass er in Krasnojarsk inhaftiert war, aber das ging nicht, denn sie wäre vor Sorge krank geworden. Außerdem wäre sie erzürnt und beunruhigt, weil ich die Akte entwendet und dann an Andrius weitergegeben hatte. Ich war auch beunruhigt.
    An diesem Abend riss ich noch mehr Zeichnungen aus dem Block und versteckte sie unter dem Futter des Koffers. Zwei Blätter waren noch übrig. Mein Bleistift schwebte über dem Papier. Ich sah auf. Mutter und Jonas unterhielten sich leise. Ich rollte den Stift zwischen den Fingern hin und her. Dann zeichnete ich einen Kragen, aus dem eine Schlange schoss. Ich radierte sie rasch weg.
    Am nächsten Nachmittag, ich kam gerade von der Arbeit, sah ich Andrius. Ich musterte ihn nervös, weil ich nicht wusste, was mit der Akte war. Als er nickte, entspannten sich meine Schultern. Er hatte sie zurückgelegt. Hatte er auch herausgefunden, was das Wort bedeutete? Ich lächelte ihn an. Er schüttelte verärgert den Kopf, konnte sich ein Lächeln aber nicht ganz verkneifen.
    Ich fand ein dünnes Stück Birkenrinde, das ich mit in unsere Hütte nahm. Ich schmückte die Ränder mit den Mustern litauischer Stickereien, zeichnete unser Haus in Kaunas und andere Symbole Litauens. Darunter schrieb ich: »Bitte im Gefängnis von Krasnojarsk abgeben. Mit Liebe von

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