Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
euch. Ich bin müde«, zeterte der Glatzkopf.
»Vielen Dank, dass ich bei Ihnen feiern durfte«, sagte ich.
Er zog eine Grimasse, wedelte mit den Händen und stieß uns zur Tür.
Wir hakten einander unter und gingen zu Uljuschkas Hütte. Ich sah zum eisigen grauen Himmel auf. Es würde bald noch mehr schneien.
»Lina.« Andrius erschien hinter der Hütte des Glatzkopfs.
Mutter und Jonas winkten und gingen allein weiter.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte er.
Ich ging zu ihm. »Woher weißt du das?«, fragte ich.
»Jonas hat es mir erzählt.«
Seine Nasenspitze war gerötet. »Du hättest reinkommen können«, sagte ich.
»Ich weiß.«
»Hast du herausgefunden, was das Wort in der Akte heißt?«, fragte ich.
»Nein. Darum bin ich nicht gekommen. Ich wollte dir … das hier geben.« Er zog ein Stoffbündel hinter dem Rücken hervor. »Herzlichen Glückwunsch!«
»Ein Geschenk? Danke! Wann hast du eigentlich Geburtstag?«
Als ich das Geschenk nahm, wollte Andrius wieder gehen.
»Warte. Setz dich«, sagte ich und zeigte auf einen Stamm, der vor einer Hütte lag.
Wir setzten uns nebeneinander. Andrius runzelte unsicher die Stirn. Ich packte das Geschenk aus.
»Ich … ich bin sprachlos«, stotterte ich.
»Gefällt es dir nicht?«
»Oh, doch! Es gefällt mir!«
Ich war sogar sehr glücklich, denn es war ein Buch. Von Charles Dickens.
»Nicht Die Pickwickier . Das habe ich ja geraucht, weißt du noch?«, sagte er lachend. »Das hier ist Dombey und Sohn . Ich konnte nichts anderes von Dickens auftreiben.« Er pustete auf seine Hände, rieb die Handschuhe aneinander. Sein Atem wirbelte wie Rauch durch die kalte Luft.
»Ich finde es großartig«, sagte ich und schlug das Buch auf. Es war auf Russisch.
»Entweder du lernst jetzt Russisch, oder du kannst dein Geschenk nicht lesen«, sagte er.
Ich zog aus Spaß eine Grimasse. »Woher hast du das Buch?«
Er holte tief Luft, schüttelte den Kopf.
»Aha. Verstehe. Sollen wir es sofort rauchen?«
»Das wäre vielleicht besser. Ich habe versucht, es zu lesen«, antwortete er und tat so, als müsste er gähnen.
Ich lachte. »Ja, Dickens beginnt oft etwas zäh.« Ich starrte das in meinem Schoß liegende Buch an. Der dunkelrote Einband fühlte sich glatt und fest an. Der Titel war in Gold geprägt. Ein schönes Geschenk, ein richtiges Geschenk, ein perfektes Geschenk. Ich hatte auf einmal ein echtes Geburtstagsgefühl und sah Andrius an. »Vielen Dank«, sagte ich und legte ihm die Fäustlinge auf die Wangen. Dann zog ich ihn zu mir heran und küsste ihn. Seine Nase war eiskalt, seine Lippen waren warm, und er roch sauber. Ich hatte auf einmal Schmetterlinge im Bauch. Ich wich zurück, betrachtete sein hübsches Gesicht und versuchte, wieder normal zu atmen. »Danke. Ich freue mich wirklich. Ein tolles Geschenk.«
Andrius saß immer noch verblüfft auf dem Baumstamm. Ich stand auf.
»Zwanzigster November«, sagte er schließlich.
»Was ist damit?«
»Das ist mein Geburtstag.«
»Ich werde daran denken. Gute Nacht.« Ich ging durch den Schnee davon.
»Aber nicht alles auf einmal rauchen«, rief mir Andrius nach.
»Bestimmt nicht«, erwiderte ich über die Schulter und drückte meinen Schatz an mich.
59
Wir schaufelten Schnee und Schneematsch weg, damit unser kleines Kartoffelbeet Sonne bekam. Laut dem Thermometer draußen am Büro der Kolchose schwankten die Temperaturen um den Gefrierpunkt. Ich konnte schon mit offenem Mantel nach draußen gehen.
Mutter lief mit geröteten Wangen in die Hütte. Sie hielt einen Brief in der zitternden Hand, einen Brief vom Cousin unserer Haushälterin, in dem zwischen den Zeilen zu lesen war, dass Papa noch lebte. Mutter nahm mich in die Arme und sagte immer wieder »Ja« und »Danke«.
Der Brief verriet nicht, wo Papa war. Ich betrachtete die steile Falte, die sich nach der Deportation zwischen Mutters Augenbrauen eingegraben hatte. Ich durfte ihr mein Wissen nicht vorenthalten. Also beichtete ich, dass ich heimlich in unserer Akte gelesen hatte und daher wusste, dass Papa in Krasnojarsk war. Zuerst war Mutter wütend, weil ich so viel riskiert hatte, aber im Laufe der nächsten Tage wurde sie immer beschwingter und klang sogar ein wenig glücklich. »Er wird uns finden, Mutter. Ganz bestimmt!«, sagte ich und dachte dabei an die Birkenrinde, die zu Papa unterwegs war.
Im Lager herrschte immer mehr Betrieb. Lieferungen aus Moskau trafen ein. Andrius erzählte, dass manche Kisten Akten enthielten.
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