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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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Wachmänner verschwanden und wurden durch neue ersetzt. Wenn Kretzky doch nur weg wäre!, dachte ich. Ich befürchtete ständig, dass er etwas nach mir werfen würde. Doch Kretzky blieb. Mir fiel auf, dass er sich hin und wieder mit Andrius unterhielt. Eines Tages kamen mir auf dem Weg zum Holzhacken im Wald Lastwagen mit Soldaten entgegen. Sie trugen andere Uniformen als der NKWD, und ich wusste nicht, wer sie waren. Sie marschierten sehr zackig.
    Nachdem ich den Kommandanten porträtiert hatte, zeichnete ich alles, was ich sah oder empfand. Manche Bilder waren so schmerzerfüllt wie die von Munch, aus anderen sprach eine hoffnungsvolle Sehnsucht. Alle waren genaue Porträts und würden sicher als antisowjetisch eingestuft werden. Abends las ich immer eine halbe Seite in Dombey und Sohn . Ich brütete über jedem Wort und musste Mutter ständig um Hilfe bitten.
    »Dieses Russisch ist altmodisch, aber sehr korrekt«, sagte sie. »Wenn du anhand dieses Buches sprechen lernst, wirst du wie eine Gelehrte klingen.«
    Andrius traf mich jetzt immer in der Brotschlange. Ich beeilte mich beim Holzhacken, weil ich hoffte, dass der Tag dann schneller vergehen würde. Abends wusch ich mein Gesicht mit Schnee. Ich versuchte, die Zähne zu putzen und meine verfilzten Haare zu bürsten.
    »Wie viele Seiten hast du schon geraucht?«, flüsterte er mir von hinten zu.
    »Fast zehn«, antwortete ich über die Schulter.
    »Dann sprichst du jetzt sicher fließend Russisch«, neckte er mich und zog an meiner Mütze.
    »Pjerestan«, erwiderte ich lächelnd.
    »Ich soll aufhören? Aha. Sehr gut. Dann hast du ja wirklich etwas gelernt. Und was ist mit krasiwaja ?«
    Ich drehte mich um. »Was bedeutet das Wort?«
    »Das musst du schon selber rausfinden«, sagte Andrius.
    »Gut, mach ich.«
    »Aber ohne deine Mutter zu fragen. Versprochen?«
    »Na schön«, sagte ich. »Kannst du es wiederholen?«
    » Krasiwaja . Du musst es aber wirklich allein verstehen.«
    »Das werde ich.«
    »Abwarten«, sagte er und ging lächelnd davon.

60
    Es war der erste Tag im Frühling. Andrius kam in der Brotschlange auf mich zu.
    »Gestern Abend habe ich ganz allein zwei Seiten gelesen«, prahlte ich, als ich mein Brot entgegennahm.
    Andrius wirkte ernst. »Lina«, sagte er und ergriff mich beim Arm.
    »Was ist?«
    »Nicht hier.« Wir entfernten uns von der Schlange. Andrius lenkte mich schweigend hinter eine nahe Hütte.
    »Was ist denn los?«, fragte ich.
    Er sah sich nach Zuhörern um.
    »Was denn?«
    »Sie verlegen Leute«, flüsterte er.
    »Der NKWD?«
    »Ja.«
    »Und wohin?«
    »Das weiß ich nicht.« Gestern hatten seinen Augen noch gestrahlt. Jetzt nicht mehr.
    »Warum verlegen sie Leute? Woher weißt du das überhaupt?«
    »Lina«, sagte er, ohne meinen Arm loszulassen. Seine Miene machte mir Angst.
    »Ja? Was?«
    Er ergriff meine Hand. »Du stehst auf der Liste.«
    »Auf welcher Liste?«
    »Auf der Liste mit den Leuten, die verlegt werden sollen. Jonas und deine Mutter stehen auch darauf.«
    »Wissen sie, dass ich die Akte gestohlen habe?«, fragte ich, aber er schüttelte den Kopf. »Wer hat es dir erzählt?«
    »Mehr weiß ich nicht«, sagte er und senkte den Blick. Er drückte meine Hand.
    Ich betrachtete unsere ineinander verschränkten Hände. »Andrius?«, stieß ich hervor. »Stehst du auch auf der Liste?«
    Er sah auf und schüttelte den Kopf.
    Ich ließ seine Hand los und rannte an den baufälligen Hütten nach Hause. Mutter. Ich musste es Mutter erzählen. Wohin würde man uns bringen? Verlegte man uns, weil wir nicht unterschrieben hatten? Wer stand noch auf der Liste?
    »Beruhige dich, Lina!«, sagte Mutter. »Immer mit der Ruhe.«
    »Andrius meint, dass sie uns wegbringen wollen«, keuchte ich.
    »Vielleicht geht es ja zurück in die Heimat«, meinte Jonas.
    »Richtig!«, sagte Mutter. »Vielleicht kommen wir an einen viel angenehmeren Ort.«
    »Vielleicht sehen wir Papa wieder«, sagte Jonas.
    »Wir haben nicht unterschrieben, Mutter. Du hast Andrius’ Gesicht nicht gesehen«, widersprach ich.
    »Und wo ist er jetzt?«, fragte Jonas.
    »Keine Ahnung«, antwortete ich. »Er steht jedenfalls nicht auf der Liste.«
    Mutter begab sich auf die Suche nach Andrius und Frau Rimas. Ich lief unruhig hin und her.
Die Dielenbretter beklagten sich knarrend über Papas Schritte.
»Schweden wäre besser«, sagte Mutter.
»Unmöglich«, erklärte Papa. »Sie können nur nach Deutschland.«
»Wir müssen ihnen helfen, Kostas«, sagte Mutter.
»Das tun

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