Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
sehe.
»Ich verstehe nicht«, log ich und bat ihn mit einer Geste, den Kopf nach links zu drehen.
Ich zeichnete einen lockeren Umriss. Ich musste mit der Uniform beginnen, weil ich den Anblick seines Gesichts nicht ertrug. Ich versuchte, mich zu beeilen, denn ich wollte mich keine Minute länger als nötig in der Gegenwart dieses Mannes aufhalten. Er ließ mich innerlich so sehr erbeben, dass ich glaubte, ich würde mich nie mehr beruhigen.
Wie sollte ich dies eine ganze Stunde ertragen? Konzentriere dich, Lina. Keine Schlangen!
Der Kommandant war kein gutes Modell. Er bestand immer wieder auf einer Rauchpause. Ich stellte fest, dass er länger sitzen blieb, wenn ich ihm ab und zu die Zeichnung zeigte. Er war in sich selbst verliebt.
Nach weiteren fünfzehn Minuten machte der Kommandant erneut eine Pause. Er nahm den Zahnstocher vom Tisch und ging hinaus.
Ich betrachtete das Porträt. Der Mann wirkte machtvoll und stark.
Der Kommandant kehrte in Begleitung Kretzkys zurück. Er entriss mir den Block und zeigte ihn Kretzky, klopfte ihm auf die Schulter.
Kretzky schaute die Zeichnung an, aber ich merkte, dass er in Wahrheit mich betrachtete. Der Kommandant sagte etwas zu ihm. Als Kretzky antwortete, stellte ich fest, dass er nicht nur den Befehlston kannte. Seine Stimme klang hell und klar. Ich hielt den Kopf gesenkt.
Der Kommandant gab mir den Block zurück. Er umkreiste mich mit langsamen, gleichmäßigen Schritten. Ich sah nur seine schwarzen Stiefel. Er schaute mir ins Gesicht und gab Kretzky einen Befehl.
Ich begann, seine Mütze zu zeichnen. Danach wäre ich fertig. Kretzky brachte dem Kommandanten eine Akte, die dieser öffnete und durchblätterte. Er sah mich an. Was mochte in dieser Akte stehen? Was wusste er über uns? Enthielt sie etwas über Papa?
Ich begann, wie wild zu zeichnen. Beeilung, dawai , sagte ich zu mir selbst. Dann stellte mir der Kommandant Fragen, die ich nur bruchstückhaft verstand.
»Malst du schon seit deiner Kindheit?«
Warum wollte er das wissen? Ich nickte und bedeutete ihm, er solle den Kopf etwas zur Seite drehen. Er tat es und nahm wieder seine Pose ein.
»Was malst du am liebsten?«, wollte er wissen.
Wollte er sich mit mir unterhalten? Ich zuckte mit den Schultern.
»Und dein Lieblingsmaler?«
Ich hielt inne und sah auf. »Munch«, antwortete ich.
»Hm, Munch«, sagte er nickend. »Kenne ich nicht.«
Das rote Mützenband war noch nicht ganz fertig, aber ich wollte weg. Also schattierte ich es rasch. Dann löste ich das Blatt behutsam aus dem Block und reichte es dem Kommandanten.
Er ließ die Akte fallen und griff nach dem Porträt, lief im Büro herum und bewunderte sich.
Ich starrte die Akte an. Sie lag einfach da auf dem Tisch. Sie enthielt bestimmt Informationen, die mir halfen, Papa eine Zeichnung zukommen zu lassen.
Der Kommandant erteilte Kretzky einen Befehl. Brot. Er befahl Kretzky, mir Brot zu geben. Eigentlich hatte er mehr als Brot versprochen.
Der Kommandant verließ den Raum. Ich wollte etwas einwenden.
Kretzky zeigte auf die Eingangstür. »Dawai!«, stieß er hervor und winkte mich hinaus. Ich sah, dass Jonas draußen wartete.
»Aber …«, begann ich.
Kretzky wiederholte seinen Befehl. Dann verließ er das Zimmer.
Jonas öffnete die Tür und lugte herein. »Wir sollen zum Kücheneingang gehen, hat er gesagt. Wir dürfen dort unser Brot abholen«, flüsterte er.
»Er hat uns Kartoffeln versprochen«, schimpfte ich. Der Kommandant war ein Lügner. Ich hätte die Schlangen doch zeichnen sollen. Als ich meinen Block nehmen wollte, sah ich die auf dem Tisch liegende Akte.
»Komm schon, Lina, ich bin hungrig«, sagte Jonas.
»Na gut«, sagte ich und tat so, als wollte ich nach meinem Block greifen. Dabei schnappte ich mir die Akte und schob sie unter meinen Mantel. »Los, gehen wir«, sagte ich und rannte zur Tür hinaus.
Jonas ahnte nicht, was ich getan hatte.
55
Wir gingen zu den NKWD-Unterkünften. Das Herz schlug mir bis zum Hals, aber ich versuchte, mich zu beruhigen und ganz normal zu tun. Als ich einen Blick über die Schulter warf, sah ich Kretzky, der das Büro der Kolchose durch die Hintertür verließ. Der lange Wollmantel schlug gegen seine Beine, als er im Schatten zu den Unterkünften lief. Wir warteten wie befohlen vor der Küchentür.
»Vielleicht kommt er nicht«, sagte ich, weil ich dringend zu unserer Hütte wollte.
»Er muss kommen«, sagte Jonas. »Sie schulden uns Essen für deine Zeichnung.«
Da erschien
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