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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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Fräulein Altai.« Dann unterschrieb ich krakelig und setzte das Datum hinzu.
    »Was soll ich damit?«, fragte die mürrische Frau, als ich sie um Hilfe bat.
    »Geben Sie es einem Litauer, dem sie im Dorf begegnen«, antwortete ich. »Bitten Sie ihn, es weiterzugeben. Es muss nach Krasnojarsk.«
    Die mürrische Frau betrachtete meine Zeichnungen: das litauische Wappen, die Burg Trakai, unser Nationalheiliger, Kasimir, und der Storch, der Vogel Litauens.
    »Hier«, sagte ich und reichte ihr ein löcheriges Kleidungsstück. »Vielleicht kann eine Ihrer Töcher diesen Unterrock gebrauchen. Es ist nicht viel, ich weiß, aber …«
    »Behalte ihn«, erwiderte die mürrische Frau, die ihren Blick nicht von meinen Zeichnungen lösen konnte. »Ich gebe es weiter.«

58
    Der zweiundzwanzigste März. Mein sechzehnter Geburtstag. Mein vergessener Geburtstag. Mutter und Jonas gingen zur Arbeit. Niemand dachte an mich. Aber was erwartete ich? Eine Feier? Wir hatten kaum etwas zu essen. Mutter tauschte fast alles gegen Briefmarken, damit sie Papa schreiben konnte. Ich würde mich nicht bei ihr beklagen, denn sie hätte ein furchtbar schlechtes Gewissen, wenn sie merken würde, dass sie meinen Geburtstag vergessen hatte. Im letzten Monat hatte ich sie an Omas Geburtstag erinnert. Sie hatte tagelang Schuldgefühle gehabt. Wie um alles in der Welt hatte sie den Geburtstag ihrer Mutter vergessen können?
    Ich stapelte den ganzen Tag Holz und stellte mir dabei vor, wie ich in Litauen gefeiert hätte. Man hätte mir in der Schule gratuliert. Zu Hause hätten sich alle fein angezogen. Papas Freund hätte fotografiert. Wir hätten in einem teuren Restaurant in Kaunas gegessen. Der Tag hätte sich anders angefühlt, besonders. Joana hätte ein Geschenk geschickt.
    Ich dachte an meinen letzten Geburtstag. Papa war etwas zu spät im Restaurant eingetroffen. Als ich erzählte, dass Joana mir nichts geschickt hatte, erstarrte er kurz. »Sie hat bestimmt zu viel um die Ohren«, erwiderte er.
    Stalin hatte mir Vater und Zuhause geraubt. Und nun brachte er mich auch noch um meinen Geburtstag. Nach getaner Arbeit schleppte ich mich durch den Schnee. Als ich mich für die Essensration anstellte, war Jonas schon da.
    »Schnell!«, sagte er. »Frau Rimas hat einen Brief aus Litauen bekommen. Einen ganz dicken!«
    »Heute?«, fragte ich.
    »Ja!«, antwortete er. »Wir treffen uns in der Hütte des Glatzkopfs. Schnell!«
    In der Schlange ging es langsam voran. Ich dachte an den letzten Brief, den Frau Rimas erhalten hatte. In der vollen Hütte war es warm gewesen. Ob Andrius auch dieses Mal dort war?
    Sobald ich meine Ration hatte, rannte ich durch den Schnee zur Hütte des Glatzkopfs. Alle kauerten sich zusammen. Ich sah Jonas und trat hinter ihn.
    »Was habe ich verpasst?«, flüsterte ich.
    »Ach, nur das hier«, antwortete er.
    Die Menge teilte sich. Ich sah Mutter.
    »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«, riefen alle im Chor.
    Ich hatte plötzlich einen Kloß im Hals.
    »Herzlichen Glückwunsch, Liebling«, sagte Mutter und drückte mich an sich.
    »Herzlichen Glückwunsch, Lina«, sagte Jonas. »Hast du etwa geglaubt, wir hätten dich vergessen?«
    »Ja, das habe ich geglaubt.«
    »Aber nicht doch«, sagte Mutter und drückte mich noch einmal.
    Ich suchte Andrius, aber er war nicht da.
    Alle sangen ein Geburtstagslied. Dann setzten wir uns und aßen gemeinsam unser Brot. Herr Lukas, erzählte von seinem sechzehnten Geburtstag. Frau Rimas schilderte Zuckerguss und Buttercreme, mit denen sie immer ihre Torten dekoriert hatte. Sie führte vor, wie sie die Schüssel gegen ihre Hüfte gedrückt und mit dem Quirl geschlagen hatte. Zuckerguss. Ich erinnerte mich an die Süße und die mürbe Konsistenz.
    »Wir haben ein Geschenk für dich«, sagte Jonas.
    »Ein Geschenk?«, wiederholte ich verblüfft.
    »Es ist nicht eingepackt, aber es ist ein Geschenk«, sagte Mutter.
    Frau Rimas gab mir ein Bündel. Es enthielt Papier und einen Bleistiftstummel.
    »Vielen Dank! Woher habt ihr das?«, wollte ich wissen.
    »Wir dürfen nicht alles verraten«, antwortete Mutter. »Das Papier ist liniert, aber wir konnten nichts anderes auftreiben.«
    »Oh, es ist wunderbar!«, sagte ich. »Die Linien sind egal.«
    »So zeichnest du ordentlicher«, sagte Jonas lächelnd.
    »Du solltest diesen Geburtstag auf einem Bild festhalten, denn er ist etwas Einmaliges. Er wird bald nur noch eine Erinnerung sein«, sagte Mutter.
    »Ein Andenken. Pah! Genug gefeiert. Hinaus mit

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