Und jeder tötet, was er liebt
Hinrichs. Wir wollen es nicht ohne Sie lesen.“
Auch Tom Greve hatte schlecht geschlafen. Spät am Abend hatte er mehrfach vergeblich zu Hause angerufen. Warum ging Anna nur nicht ans Telefon? Er wollte ihr sagen, dass er um ihre Geschichte mit Jan wusste und sich entschlossen hatte, allein nach Italien zu fahren. In der Nacht aber hatte er einen furchtbaren Traum gehabt, aus dem er schweißgebadet aufgewacht war. Die Bilder waren unglaublich realistisch gewesen, gerade so wie die Szenen in einem Film. Er hatte Anna bei der Verfolgung eines Mannes gesehen und dann im nächsten Moment, wie sie von einem Geschoss getroffen auf dem Asphalt zusammengebrochen war. Das Blut hatte sich sehr schnell ausgebreitet. Zu schnell.
Was, wenn sie tatsächlich ohne Unterstützung der Kollegen versucht hatte, einen Mörder zu stellen? Ihr musste etwas zugestoßen sein, das spürte er in diesem Augenblick ganz deutlich. Seine innere Verbindung zu Anna war offensichtlich doch noch intakt. Auf einmal schienen Tom die Probleme, die sie miteinander hatten, ganz nebensächlich zu sein. Was würde er nur ohne Anna tun? Er schaute auf die Uhr, es war jetzt kurz vor halb neun. Wieder hörte er nur das Freizeichen und anschließend ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter. Als er anschließend in der Dienststelle anrief, erfuhr er von Lukas Weber, dass Anna gerade auf dem Weg ins Präsidium war. Tom Greve atmete tief durch.
Günther Sibelius und Weber sahen ihre Kollegin aufmerksam an, als sie zur Tür hereinkam.
„Ihr Mann hat eben angerufen, er lässt Sie grüßen“, sagte Günther Sibelius. „Ich glaube, Sie sollten sich bei ihm melden, er schien in Sorge um Sie gewesen zu sein.“
Anna lächelte in sich hinein. Tom sorgte sich also um sie; vielleicht war das ein gutes Zeichen für ihre anstehenden Gespräche mit ihm. Als sie nun aber in die erwartungsvollen Gesichter ihrer Kollegen sah, wandte sie sich ihrer Arbeit zu. Anna erkannte das kleine, in Leder gebundene Buch, das auf ihrem Schreibtisch lag, sofort wieder. Wilfried Hinrichs hatte in der Kapelle etwas dort hineingeschrieben. Vorsichtig nahm sie es nun in die Hand und schlug es auf. Mehrere eng beschriebene Seiten in einer gut lesbaren, akkuraten Handschrift mit kraftvollen Bögen kamen zum Vorschein.
Die Kommissarin nagte an ihrem Daumennagel und begann laut vorzulesen.
Für Johanna
Wenn ich die Uhr doch nur zurückdrehen könnte, ich würde es auf der Stelle tun. Ich bin so dumm gewesen, ja ich wollte nur zu gern glauben, dass du mich liebst. Besser hätte ich meine Hände um deinen Hals legen und zudrücken sollen, bis du endlich den Mund hältst.
Wer hat von Eltern gehört, die ihre Kinder töten? Gut, im Tierreich mag es so etwas geben. Eltern töten ihre Nachkommenschaft, wenn diese in einer absolut lebensfeindlichen Umgebung zur Welt kommt. Sie fressen die Kinder auf, um selbst zu überleben, und schaffen so die Voraussetzung, ihre Art zu erhalten. Das mag grausam sein, aber es hat einen Sinn.
Unser Mädchen hat Schmerzen und Todesängste aushalten müssen, weil sie wie du ist. Und weil du uns verraten hast.
Ich weiß, ich habe Esther nicht gezeugt, aber nach deinem Tod fing ich an, ihr Vater zu werden. Endlich war sie auch meine Tochter.
Du bist schuld, dass Esther sterben musste, Johanna. Wärest du damals nur fortgegangen mit deinem Gustav. Hättest du sie nur mitgenommen.
Auch wenn es nach deinem Tod nie einfach gewesen ist, wir haben gelernt, uns mit der Situation zu arrangieren.
Esther hat mich oft nach dir gefragt.
Wollte wissen, wie du gestorben bist.
Wollte wissen, ob du sie und mich geliebt hast.
Ich habe ihr eine Geschichte erzählt, die nicht nur traurig war. Sagte ihr, dass du mein Stern gewesen bist und wie es war, als ich dich zum ersten Mal in diesem Café entdeckte. Über alles andere habe ich geschwiegen. Fast fing ich selbst an, diese Version zu glauben. In der Erinnerung sah ich dich wieder mit ihr als kleinem Mädchen auf deinem Schoß. Wie sie mit einem Kamm immer wieder zärtlich durch deine Haare gestrichen hat, das werde ich nie vergessen. Vielleicht wird dieses Bild mein letztes sein, das ich vor Augen habe, wenn ich sterbe.
Dein krankes Herz und das Missgeschick, falsche Tabletten, an denen du schließlich gestorben bist, diesen Teil der Geschichte hat sie wahrscheinlich nie in Frage gestellt.
Geholfen hat es ihr trotzdem nicht viel; immer musste Esther gegen ihre Traurigkeit kämpfen. Du hast auch ihr Leben zerstört,
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