Und jeder tötet, was er liebt
vor, dann sagte sie: „Ist das hier früher nicht einmal die Praxis von Herrn Dr. Hugo Mandel gewesen?“
„Der Herr Doktor ist schon seit ein paar Jahren tot. Aber vielleicht kann Ihnen die Frau Doktor weiterhelfen, sie ist seine Tochter.“
Als Anna aufgelegt hatte, ging sie in die Kantine hinüber, in der sie ihren Kollegen Lukas Weber zu finden hoffte.
„Kommen Sie, Weber, wir müssen nach Flottbek fahren, es gibt da vielleicht eine neue Spur.“
Als sie wenig später zusammen im Auto saßen, fragte Weber nach.
„Worum geht es hier denn überhaupt?“
„Der Arzt, der damals den Totenschein von Johanna Hinrichs ausgestellt hat, ist ein Nachbar der Familie gewesen. Vielleicht finden wir irgendetwas in seinen Unterlagen, das uns weiterbringt.“
„Aber wir bearbeiten doch den Mord an Esther Lüdersen. Wozu soll uns dabei das Wühlen in den alten Krankenakten ihrer Mutter nutzen?“
Anna schwieg und konzentrierte sich nun ganz darauf, ihren Wagen durch den dichten Straßenverkehr zu lenken. Weber starrte seine Kollegin kopfschüttelnd an.
„Anna? Ich habe Sie etwas gefragt.“
„Warten Sie’s ab, Weber.“
Wenig später standen sie in der Baron-Voght-Straße 15 vor einem großen weißen Einzelhaus. Anna drückte auf die Klingel neben einem Messingschild, auf dem zu lesen war, dass sich im unteren Stockwerk eine Arztpraxis befand. Eine junge Frau in weißer Hose und ebensolchem Pullover führte sie in das Sprechzimmer von Frau Dr. Mandel.
„Mein Vater hat während seines langen Arbeitslebens die Krankenakten seiner Patienten sehr sorgfältig archiviert, der ganze Keller steht damit voll. Nach seinem Tod konnte ich mich bisher noch nicht durchringen, die verjährten Fälle auszusortieren.“
Sie führte die Kommissare eine steinerne Treppe hinunter, dann machte sie Licht. „Kommen Sie hier unten allein zurecht?“
„Ja danke, Frau Dr. Mandel. Aber ich habe da noch eine Frage zur Sache an Sie. Haben Sie die Familie Hinrichs eigentlich gekannt?“
„Natürlich, sie sind ja schließlich unsere Nachbarn gewesen.“
„Und welchen Eindruck hatten Sie von ihnen?“
„An Johanna Hinrichs kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich bin fünf Jahre alt gewesen, als sie starb. Von meinem Vater weiß ich allerdings, dass sie große Probleme hatte, mit ihrem Leben zurechtzukommen. Und als ich neulich in der Zeitung von dem Verbrechen an Esther gelesen habe, war ich davon sehr berührt. Untersuchen Sie diesen Mord?“
„Ja, das ist richtig, Frau Dr. Mandel, und es würde uns bestimmt weiterhelfen, wenn Sie uns ein wenig mehr von der Familie Hinrichs erzählen.“
„Ich habe zu Esther nie viel Kontakt gehabt, denn sie war ein paar Jahre älter als ich. Aber es ist auch schwer gewesen, zu ihr Kontakt zu bekommen. Erst später, als wir in die gleiche Schule gegangen sind, habe ich mich manchmal mit Esther unterhalten. Einmal war ich sogar auf ihrem Geburtstagsfest eingeladen. Außer mir ist nur noch ein weiteres Mädchen, das auch in meinem Alter war, dort gewesen. Esthers Kindermädchen hat sich wirklich bemüht, es uns gemütlich zu machen, aber in diesem Haus hat eine bedrückende Atmosphäre geherrscht. Es war dort wie in einem Totenhaus.“
„Haben Ihre Eltern die Familie Hinrichs näher gekannt?“
„Mein Vater hat gelegentlich Golf mit Herrn Hinrichs gespielt. Er sagte häufig zu meiner Mutter und mir, dass Wilfried Hinrichs ihm leidtäte. Mein Vater hielt ihn für einen sehr einsamen Mann. Mir hat eher Esther leidgetan, schließlich musste sie ohne ihre Mutter aufwachsen. Überhaupt glaube ich nicht, dass die Hinrichs jemals eine glückliche Familie gewesen sind.“
Amelie Mandel sah kurz auf ihre Armbanduhr.
„Die Krankenakte von Johanna Hinrichs müssten Sie irgendwo dort drüben finden. Ich kann Ihnen jetzt leider nicht mehr bei der Suche danach helfen, meine Sprechstunde beginnt gleich.“
Anna wischte ein Spinnennetz von dem Regal vor sich fort und begann zu lesen. Zuerst mussten sie herausfinden, nach welchen Gesichtspunkten Dr. Mandel seine Unterlagen geordnet hatte.
„Hier haben wir das Jahr 1957.“ Weber zeigte auf ein Stahlregal in der Ecke des ersten Raumes. „Die Patientennamen sind alphabetisch sortiert.“
Johanna Hinrichs war im Sommer 1959 verstorben. Vor dem Regal, in dem die Akten des Jahres 1959 untergebracht waren, fand Anna Greve unter dem Buchstaben H drei Papphefter mit dem Namen Hinrichs; der mittlere enthielt die Krankenakte von Johanna Hinrichs.
Johanna
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