Und jeder tötet, was er liebt
Raumes zu schaffen und kam mit zwei Tellern, ein paar Keksen und dünnwandigen Porzellantassen zurück. „Einen Moment“, sagte er anschließend, „ich besorge uns nur eben noch einen Tee.“
Bevor sie etwas erwidern konnte, war Hinrichs auch schon aus dem Zimmer verschwunden. Anna wartete mehrere Minuten, aber er kam nicht zurück. Sie waren an einem entscheidenden Punkt ihres Gespräches angelangt, doch wieder einmal hatte sich Wilfried Hinrichs ihr unter einem Vorwand entzogen. Was, wenn er ...? Anna sprang auf und rannte aus dem Zimmer hinaus in die Vorhalle. Hier traf sie dieselbe Krankenschwester, bei der sie sich schon einmal nach Hinrichs erkundigt hatte, im lebhaften Gespräch mit Weber an.
„Herr Hinrichs ist wahrscheinlich in die Kapelle gegangen. Um diese Zeit findet man ihn meistens dort.“
„Aber er wollte uns doch nur einen Tee holen. Wir sind gerade mitten in einer Befragung gewesen ... Weber, gehen Sie in die Küche, ich sehe in der Kirche nach.“
Anna betrat die Kapelle. Ihre Augen, eben noch dem gleißenden Sonnenschein ausgesetzt, brauchten eine Weile, um sich an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Weil ihr durch die plötzliche Dunkelheit schwindelig geworden war, setzte sie sich für einen Moment in die hinterste Reihe. Sobald sie wieder etwas erkennen konnte, stellte Anna fest, dass der Raum leer war. Auf einmal wusste sie, wo sie Esthers Vater möglicherweise noch finden konnte. So schnell sie konnte, lief sie durch den Garten zur Elbe hinunter. Das parkartige Grundstück war hügelig, der Weg schlängelte sich in vielen Kurven bis hin zu jener Bank, auf der sie ihn zum ersten Mal angesprochen hatte. Durch eine Baumreihe hindurch meinte sie, ihn tatsächlich dort sitzen zu sehen. Zusammengesunken wie eine Marionette, der man die Fäden durchtrennt hatte, schien Wilfried Hinrichs auf der roten Bank zu kauern. Wirre Gedanken durchflogen Annas Kopf, während sie weiterrannte. Vielleicht schläft er nur, hoffte sie inständig. Doch dann entdeckte sie das Blut an seinem Hals. Sie kam näher und sah das kleine Loch an seiner Schläfe. Noch ein paar Meter, dann war Anna bei ihm angekommen. Sie kniete sich neben ihn auf den Boden und keuchte. Anna legte ihre Hand an seine Halsschlagader. Da war kein Puls mehr, sein Herz hatte bereits aufgehört zu schlagen. Jetzt sah sie auch die Pistole neben der Bank im Gras liegen. Anna starrte darauf, dann auf ihre zitternden Beine. Was machte sie überhaupt alleine hier? Wo zum Teufel steckte Weber? Wilfried Hinrichs hatte sich genau das angetan, was er im Leben wohl am meisten verabscheut hatte und sie hätte es möglicherweise verhindern können. Mit klammen Fingern angelte Anna das Handy aus ihrer Jackentasche und informierte Weber. Vielleicht würden sie nun niemals erfahren, wer Esther Lüdersen getötet hatte.
Wie in Trance fuhr Anna nach Hause. Die letzten Stunden des Tages waren über der Untersuchung des Freitods von Wilfried Hinrichs vergangen. Im selben Schrank, aus dem er zuvor auch die Tassen und Teller geholt hatte, fanden sie eine leere Pistolenschachtel. Obwohl ihr die Kollegen keinen Vorwurf gemacht hatten, spürte sie eine enorme Last auf ihrer Seele liegen. Anna war nur einen Augenblick lang nicht aufmerksam gewesen, aber diesen Moment hatte Wilfried Hinrichs genutzt, um die Pistole aus seinem Schrank zu holen. Wie auch immer, die Geschichte schien zu Ende zu sein, und der Mord an Esther Lüdersen würde nun vielleicht als ein weiteres unaufgeklärtes Verbrechen in den Aktenschränken des LKA vermodern. Müde zog sie sich ihre Schuhe aus und lief barfuß in die Küche, um sich einen Rotwein zu holen. Wie gerne würde sie sich jetzt von Tom trösten lassen. Heute Abend würde Anna eine ganze Flasche austrinken und, wenn es sein musste, auch noch eine zweite. Sie würde so lange trinken, bis ihr Kopf endlich aufhörte zu denken. Anna wollte schlafen, nur noch ausruhen. Das Telefon klingelte, aber Anna nahm den Hörer nicht ab. Sie wollte jetzt mit niemandem reden.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, fühlte sich Anna immer noch schlecht. Nur hatte sich jetzt zu den sie nach wie vor quälenden Selbstvorwürfen auch noch ein stechender Kopfschmerz gesellt. Wieder klingelte das Telefon wie schon zweimal in der vergangenen Nacht. Müde nahm sie den Hörer ab.
„Anna, Sie müssen sofort ins Büro kommen“, rief Weber. „Wir haben ein Notizbuch gefunden, wie es scheint mit persönlichen Aufzeichnungen von Wilfried
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