Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und Jimmy ging zum Regenbogen

Und Jimmy ging zum Regenbogen

Titel: Und Jimmy ging zum Regenbogen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
Vom Netzwerk:
bitte«, sagte Irene.
    Ernst Seelenmacher sah auf seine großen, rauhen Hände. Er sah sich in dem Raum dieses Weinhauerhauses um, in dem schon vor mehr als vierhundert Jahren Menschen Schutz vor anderen Menschen gesucht und gefunden hatten.
    »Diese Geschichte«, sagte Seelenmacher, »hat Martin Buber aufgeschrieben. Danach nahm im zaristischen Rußland der berühmte Rabbi Elimelekh einmal das Sabbatmahl zusammen mit seinen Schülern ein. Ein Diener stellte die Suppenschüssel vor ihn hin. Der Rabbi ergriff sie so ungeschickt, daß sie umfiel und die Suppe über den ganzen Tisch rann. Ein Schüler namens Mendel – er wurde später Rabbi von Rymanow – rief entsetzt: ›Was tun Sie bloß? Man wird uns alle in den Kerker werfen!‹ Die anderen Schüler lächelten über diese albernen Worte. Sie hätten laut herausgelacht – nur die Anwesenheit des Rabbi hinderte sie daran. Dieser lächelte nicht. Er nickte dem jungen Mendel zu und sagte ernst: ›Fürchte nichts, mein Sohn.‹«
    »Ja«, sagte Manuel. »Und?«
    »Einige Zeit später wurde bekannt, daß dem Zaren an eben diesem Samstag ein Gesetz vorgelegt worden war, das schwere Bestrafungen der Juden in ganz Rußland vorsah. Der Zar sollte nur noch unterschreiben. Immer wieder griff er zur Feder, aber immer wieder wurde er durch ein wichtiges oder triviales Ereignis gestört. Schließlich unterzeichnete er das Gesetz. Dann faßte er nach der Büchse, um Streusand auf die Urkunde zu klopfen, doch in seiner Nervosität nahm er statt dessen das Tintenglas und schüttete den gesamten Inhalt über das Dokument. Danach zerriß er es und verbot seinen Ministern, ihm einen solchen Erlaß noch einmal vorzulegen.« Seelenmacher sagte leise: »Der Rabbi Elimelekh war weit, weit vom Zaren entfernt, als er die Suppenschüssel umstürzte. Ein anscheinend sinnloser Vorfall, und zur gleichen Zeit ein Vorfall von historischer Bedeutung – gehörten sie nicht trotzdem zusammen in das Webmuster des Lebens? Provozierte der eine nicht den anderen? Waren sie nicht in Wahrheit nur
eine
Sache? Es gibt keine anderen Zufälle als magische«, sagte Seelenmacher. »Und diese hängen magisch miteinander zusammen …«
    Danach war es still, und keiner der drei sah den anderen an, und draußen fiel der Schnee, geräuschlos, unaufhörlich, unerschöpflich, Gebieter über Stadt und Land, während zur gleichen Zeit ein kleines Mädchen namens Janine Clairon in einer Villa in Anfa, dem exklusiven Viertel von Casablanca, glücklich lächelnd träumte, es laufe über den Rasen des Gartens dem geliebten Vater entgegen, der endlich von seiner Reise heimgekehrt war.

42
    Manuel hielt vor dem Haus in der Gentzgasse, schaltete die Scheinwerfer auf Standlicht und die Scheibenwischer aus. Irene und er sahen durch die Windschutzscheibe in das schwere Flockentreiben. Der Motor pochte leise, es war warm im Wagen.
    »Das ist also der Abschied«, sagte er.
    »Vielleicht könnte ich morgen noch zum Flughafen kommen? Mein Auto ist wieder repariert. Ich …«
    »Nein.« Manuel schüttelte den Kopf. »Der Hofrat Groll hat davon abgeraten. Auch in Schwechat werden natürlich Agenten sein. Vielleicht fliegen sogar einige mit. Sie sollten da nicht mit mir auftauchen, sagte Groll. Tagsüber müssen Sie in der Apotheke arbeiten. Zu Mittag kommt Cayetano. Ich fürchte, wir sehen uns jetzt zum letztenmal.« Wie pathetisch das klingt, dachte er.
    »Sie werden nicht mehr nach Wien zurückkommen?« fragte Irene nach einer Weile. Die Scheiben des Wagens waren schon fast ganz zugeschneit. »Aber ja … das heißt, vielleicht … später … Ich weiß ja nicht, was mich daheim erwartet.«
    Sie wandte sich ihm mit einem jähen Ruck zu.
    »Also dann, Manuel …«
    »Ich habe noch eine Bitte«, sagte er scheu. »Kein Kuß, nein. Das wäre … wäre absurd, nicht wahr? Was ich gern haben möchte, das ist eine Fotografie von Ihnen.«
    »Wozu?«
    »Damit ich immer weiß, wie Sie aussehen.«
    »Und was hätten Sie davon?«
    Es war nun so dunkel im Wagen, daß er nur ihre Silhouette erkennen konnte.
    »Ich … ich weiß nicht … Ich hätte eben gerne ein Bild.«
    »Valerie hat eine große Schatulle, in der liegen alle unsere Fotos. Natürlich können Sie eines von mir haben.«
    »Darf ich mit hinaufkommen?«
    »Ja«, sagte sie.
    »Danke.« Er schaltete den Motor ab. Durch hohen Schnee wateten sie zum Hauseingang. Der alte Aufzug zitterte und ächzte, als sie mit ihm emporfuhren. Irene sperrte die Wohnungstür auf. Sie

Weitere Kostenlose Bücher