Und Jimmy ging zum Regenbogen
Bedienerin, die zweimal wöchentlich kommt, eine faule, unsaubere Person, aber was soll man tun, man muß froh sein, wenn man heutzutage überhaupt noch eine Kraft findet, nicht wahr, es wird immer schlimmer, man könnte glatt verzweifeln …«
Valerie lauschte benommen. Sie war erschrocken über das Maß, in dem Frau Lippowski sich verändert hatte. Schön war sie auch vor neunzehn Jahren nicht gewesen. Aber doch zierlich und schlank, mit einem herb wirkenden Gesicht (›apart‹ nannte man das), schwarzem Haar, schwarzen Augen und einer melodischen Stimme.
Jetzt war die Lippowski bei ihrer Kleinheit rund wie eine Kugel geworden, das Haar, ungepflegt und strähnig, stand ihr aschgrau vom Kopf ab, die Augen waren erloschen, halb verdeckt von den Lidern, der Mund war schmallippig und fest geschlossen, das Gesicht faltig. Valerie hatte rasch überlegt: Wenn diese Frau 1923 etwa vierzig Jahre alt gewesen war, dann konnte sie noch keine sechzig sein. Sie sah aber aus, als wäre sie schon über siebzig …
In der guten Stube ihrer Wohnung im Erdgeschoß servierte Frau Lippowski Tee und dazu alte, harte Kekse. Die gute Stube war noch genauso scheußlich eingerichtet und vollgestopft, wie Valerie sie in Erinnerung hatte. Hier schien die Zeit stehengeblieben zu sein.
Aus der Wohnung im ersten Stock ertönten lautes Kindergebrüll und eine Frauenstimme, dann fielen Gegenstände um.
Hermine Lippowski sah sich sogleich zu neuen Klagen veranlaßt: »Da hören Sie es! Umsiedler! Volksdeutsche! Hat man mir eingewiesen. Zwei kleine Kinder und ein Säugling. Das Geplärre und der Krach Tag und Nacht, es ist zum Verrücktwerden. Natürlich hätte ich auf alle Fälle vermietet, ich brauche das Geld. Ich hatte ein so nettes, ruhiges Ehepaar – ganz wie Sie und Ihr Mann damals. Aber nein, die Volksdeutschen haben sie mir geschickt vom Wohnungsamt. Habe ich nehmen müssen. Glauben Sie, diese Leute nehmen Rücksicht, irgend jemand nimmt heute noch Rücksicht? Da, jetzt fängt das verdammte Balg auch noch an!«
Tatsächlich erklang Wehgeschrei eines Babys durch die Decke.
Frau Lippowski stampfte mit dem Fuß auf vor Wut. Dann lächelte sie verzerrt.
»Ich habe noch gar nicht gefragt, wie es Ihnen geht! Ihnen und Ihrem lieben Mann und dem Heinzi.«
»Ich habe Sorgen, Frau Lippowski. Große Sorgen. Darum komme ich zu Ihnen.«
»Sorgen? Erzählen Sie. Erzählen Sie mir alles.«
Der Säugling brüllte weiter, die Kinder tobten, und Valerie berichtete stockend zuerst, fließend dann, zuletzt wieder stockend, denn eine immer größere Beklemmung hatte sich ihrer bemächtigt. Das waren ihre Schlußworte: »Und wenn man Sie jetzt vor Gericht befragt, Frau Lippowski, dann möchte ich Sie herzlich bitten, so auszusagen, wie ich es Ihnen geschildert habe.«
»Daß ich den Herrn Landau so oft habe kommen sehen, besonders wenn Ihr Mann verreist war, und daß Ihr Mann und Sie immer gestritten und eine ganz schlechte Ehe geführt haben?«
»Ja.«
Die Frau mit dem wirren Haar saß reglos, ohne zu antworten.
»Frau Lippowski, bitte! Sie wissen doch jetzt, worum es geht. Zu Ihnen kann ich doch Vertrauen haben. Sie haben mir einmal selber erzählt, daß Sie mit einem Juden verheiratet gewesen sind, der im Ersten Weltkrieg, 1918 noch, gefallen ist. Sie müssen doch Verständnis haben für meine Situation. Sie erinnern sich bestimmt noch gut an meinen Mann.«
»Ich erinnere mich noch gut an Ihren Mann.«
»Und Sie verstehen meine Lage?«
»Ich verstehe Ihre Lage, ja, Frau Steinfeld. Ich verstehe sie ausgezeichnet.«
»Also darf ich damit rechnen, daß Sie in meinem Sinne aussagen?«
»Nein«, sagte Hermine Lippowski, »nein, und tausendmal nein.« Valerie suchte nach Worten. Sie redete auf die dicke Frau ein, sie bat, sie bettelte, sie flehte.
Es half nichts.
»Nein«, sagte Hermine Lippowski, die ein schwarzes, hochgeschlossenes und altmodisches Kleid mit funkelnden schwarzen Glasknöpfen und alte, hohe Stiefeletten trug. »Nein, Frau Steinfeld. Mit mir können Sie nicht rechnen. Ich werde nicht für Sie aussagen.«
»Haben Sie Skrupel, zu lügen? Die müssen Sie nicht haben. Ich habe meinen Mann wirklich betrogen! Unsere Ehe
war
schlecht! Sie
müssen
unsere Streitereien doch gehört haben! Und Herrn Landau zu mir kommen gesehen!«
Über ihnen klatschten Ohrfeigen. Ein Junge heulte los.
»Ich habe keine Streitereien gehört. Nie. Soviel ich weiß, haben Sie eine sehr glückliche Ehe geführt. Und Herr Landau war niemals mehr als
Weitere Kostenlose Bücher