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Und Jimmy ging zum Regenbogen

Und Jimmy ging zum Regenbogen

Titel: Und Jimmy ging zum Regenbogen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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sei tot, hat sie mir erzählt, als wir uns endlich wiedersahen.«
    »Wann war das?«
    »Erst vor zwei Jahren. Ich arbeitete lange in Hallein. Dann wurde ich pensioniert, habe noch in einer anderen Salzburger Pfarrei ausgeholfen und bin endlich hier, in der Piaristengasse, gelandet. Als ich wieder in Wien war, erinnerte ich mich auch an das Fräulein Agnes. Und ich fand sie. Aber da war sie schon fast in dem Zustand, in dem sie heute ist. Sie konnte mir nichts mehr erzählen. Nur wirres Zeug, wie Ihnen vorhin, Herr Aranda. Ich versuchte, mit Frau Steinfeld in Kontakt zu treten. Doch die bat mich sehr höflich, von einem Besuch abzusehen.« Pankrater hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Ein Geheimnis, das alles. Ein schreckliches Geheimnis, das seine Wurzeln hat in der entsetzlichen Zeit, von der Narren meinen, daß sie endgültig hinter uns liegt …«
    Forsters Worte gingen Manuel durch den Sinn. Er sagte: »Sie meinen das nicht?«
    »Nein, Herr Aranda. Der Ungeist des Dritten Reiches, der Hochmut, die Intoleranz, die Gemeinheit, der Sadismus Hitlers und seiner Genossen, das alles ist noch lebendig hier drinnen!« Er klopfte gegen seine Brust. »Das kann zum Ausbruch kommen jederzeit – in einer andern Form, in einem andern Land, überall auf der Welt. Denn wir alle sind nur Menschen, und wir alle haben Hitler in uns – zu allen Zeiten.«
    Er schwieg wieder, dann sagte er lächelnd: »Als das Fräulein Agnes erfuhr, daß ich in der Piaristengasse wohne, suchte sie sich
dieses
Altersheim aus, weil es so nahe liegt.«
    Die Tür, vor der sie saßen, flog auf.
    In ihrem Rahmen stand, klein, strahlend, zerbrechlich, die Agnes und rief mit glücklicher, hoher Stimme: »Jetzt bitte hereinkommen! Mein Tiergarten ist fertig! Das Zebra steht genau in der Mitte!«

66
    »Dreieinhalb Millionen Juden gab es vor dem Krieg in Polen«, sagte Jakob Roszek. »Als die Vernichtungsaktionen Hitlers und der Krieg vorbei waren, lebten von diesen dreieinhalb Millionen noch fünfundzwanzigtausend. 1967, nach dem Sechstagekrieg der Israelis gegen die Araber, flammte der Antisemitismus in Polen wieder auf. Es war ein staatlich geschürter und gelenkter, systematischer Antisemitismus, mit dem Ziel der Vertreibung der letzten noch lebenden Juden. Im vergangenen Jahr haben rund zehntausend von ihnen die Heimat verlassen und sind auf dem Weg über Österreich nach Israel ausgewandert. Heuer werden es bestimmt mindestens wieder so viele sein. Wir haben das Ende der fast tausendjährigen Geschichte des polnischen Judentums erreicht.« Jakob Roszek rauchte hastig eine amerikanische Zigarette, die Aranda ihm angeboten hatte. Es war schon die vierte. Die fremde Zigarette, die Möglichkeit, frei zu reden, wirkten wie Rauschgift auf den großen Mann mit der starken Brille und dem sehr breiten, sehr blassen Gesicht.
    Seine Frau saß still und in sich zusammengesunken neben ihm. Sie hatte in der letzten halben Stunde kaum zehn Worte gesprochen. Ihre Tochter, ein schönes junges Mädchen mit blondem Haar und blauen Augen, war die einzige an dem Tisch im Restaurant des Wiener Ostbahnhofs, eines riesigen grauen Betonbaus, die aufgeregt und hungrig ein großes Mittagessen verzehrte. Mit staunenden Blicken nahm sie das Bild der fremden Menschen, der fremden Welt, in die sie geraten war, auf. Roszek bemerkte, daß Manuel das junge Mädchen betrachtete. Er sagte: »Für Ljuba ist das alles etwas Neues. Meine Frau und ich kennen es schon. Für uns ist es das zweite Mal.«
    »Sie sprechen deutsch wie ein Wiener«, sagte Irene.
    »Ich stamme aus Wien! Meine Frau auch. Wir flüchteten nach Prag, als Hitler kam. Von Prag flüchteten wir nach Polen. In Polen landeten wir in derselben Untergrundbewegung. Da lernten wir uns kennen. Später waren wir bei den Partisanen. Da trafen wir Daniel Steinfeld. Auch er war über Prag nach Polen gekommen. Wir hatten unglaubliches Glück, alle drei. Wir überlebten«, sagte Roszek nach einer Pause.
    Es war 14 Uhr 20, und es schneite immer noch.
    Etwas mehr als sechs Stunden verspätet, hatte der ›Chopin-Expreß‹ endlich den Ostbahnhof erreicht – mit vereisten Fenstern, mächtige Eiszapfen an den Wagendächern und den Unterseiten der Waggons.
    Eine Gruppe von rund dreißig Juden, meist älteren Leuten, war aus einem Waggon gestiegen und von zwei wartenden Männern in Empfang genommen worden.
    Irene und Manuel erkannten Jakob Roszek sofort nach der Beschreibung, die Daniel Steinfeld von ihm gegeben hatte, und an

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