Und Jimmy ging zum Regenbogen
Restaurant des Bahnhofs. Sie hatte die Erlaubnis erhalten, zurückzubleiben unter der Voraussetzung, daß Manuel sie in das Lager brachte.
Irene und Manuel berichteten abwechselnd, was sich ereignet hatte. Roszek und seine Frau waren sehr erschrocken. Sie konnten nichts essen, sie bestellten bloß Kaffee. Das junge Mädchen hatte Appetit. Es verzehrte ein großes Menu. Ljuba sprach schlecht Deutsch und verstand nur einen kleinen Teil der Konversation. Sie stellte keine Fragen. Sie aß und sah staunend immer wieder um sich, als wäre sie auf einem anderen Planeten gelandet …
67
Nach dem Sechstagekrieg (erzählte Jakob Roszek) verurteilten die Ostblockstaaten, allen voran die Sowjetunion, Israel als ›Aggressor‹. Diplomatische Beziehungen wurden abgebrochen, Botschaften, Gesandtschaften und Konsulate geschlossen. Überall kam es zu antijüdischen Demonstrationen. In Polen wuchsen sich diese Demonstrationen zu einer unerbittlichen ›Säuberungsaktion‹ aus.
»Die Leute flogen aus ihren Stellungen«, berichtete Roszek, »vielen wurden noch Scheinprozesse wegen angeblicher staatsfeindlicher Tätigkeit gemacht – und mehr und mehr Juden, viele davon eben noch in höchsten und wichtigsten Positionen, sahen sich vor dem Nichts, vor dem Ende einer Existenzmöglichkeit in Polen. Es gab nur noch eines für sie: auswandern …«
In diesem Stadium schaltete sich die israelische Hilfsorganisation ›Jewish Agency‹ ein. Sie entrichtete die Kosten für jene Reise ohne Wiederkehr – allerdings nicht an die Juden, sondern an den polnischen Staat. Es waren große Beträge. Jeder Jude, der Polen verlassen wollte, mußte zunächst fünftausend Zloty bezahlen.
»Fünftausend Zloty sind ungefähr fünftausend westdeutsche Mark oder dreißigtausend österreichische Schillinge«, berichtete Jakob Roszek in dem großen, fast leeren Restaurant des Wiener Ostbahnhofs, indessen seine Frau auf das Tischtuch starrte, indessen seine Tochter, wie berauscht, aß und um sich schaute, um sich schaute und aß. »Fest steht, daß jeder auswandernde Jude – und meine Frau, ich und Daniel Steinfeld sind gleich nach dem Krieg mit Orden behängt und wegen unserer Verdienste im Untergrund und bei den Partisanen ehrenhalber zu polnischen Staatsbürgern erklärt worden –, daß jeder Jude, der auswandert, seine Wohnung tadellos instandsetzen muß für den nächsten Mieter. Fest steht, daß man nur ganz wenig Gepäck haben darf. Nicht mitnehmen darf man Zeugnisse, Diplome, Arbeitsbestätigungen, Bücher, die man selber geschrieben hat, oder Manuskripte. Darauf stehen, wenn man es doch versucht und erwischt wird, hohe Strafen. Für die Wiener sind wir Transitgäste, die fremdenpolizeilich nicht behandelt werden. Oder nur dann, wenn einer von uns hier um politisches Asyl ansucht«, erzählte Jakob Roszek, mit ruhiger Stimme, aber hastig und übernervös rauchend. »Das tun allerdings ganz wenige. Die meisten wollen wirklich nach Israel. Wie wir.«
»Da unten kann doch jeden Moment ein neuer Krieg losbrechen!« rief Manuel. »Die Araber haben sehr viel mehr Waffen als das letzte Mal.«
»Das wissen wir«, sagte Roszek.
»Und trotzdem?«
»Und trotzdem«, sagte Roszek. »Wo sollen wir denn hin ohne Angst, daß uns dasselbe passiert wie in Polen? Welches Land läßt Juden denn gern herein? In Israel können wir wenigstens nicht ausgewiesen werden.« Eine heisere, erkältete Stimme gab aus Lautsprechern gelegentlich die Abfahrt oder die Ankunft von Zügen, aber meistens nur immer weitere und größere Verspätungen von Zügen bekannt.
Irene fragte: »Und Daniel Steinfeld? Was ist mit ihm? Was sollte meine Tante für ihn tun?«
»Ihre Tante … wenn er eine Ahnung gehabt hätte … wenn er wüßte … eine furchtbare Geschichte ist das, die da passiert ist …«
»Es ist auch eine furchtbare Geschichte, die Ihnen passiert«, sagte Irene.
Sie ist überraschend hart geworden in der kurzen Zeit, dachte Manuel. Er blickte sie an. Irene legte eine Hand auf seine Schulter.
»Daniel … ja, also sehen Sie, Daniel ist nicht gesund. Er kann noch arbeiten fast wie ein Gesunder, aber er verträgt nur eine ganz strenge Diät. Er hat eben eine Leberentzündung überstanden … zwanzig Kilo abgenommen dabei … und nun befürchtet er, daß er diese strenge Diät im Lager nicht bekommen kann. Hier sitzt man angeblich manchmal wochenlang fest! Das würde er nicht durchhalten. Sie machen Ausnahmen – in Krankheitsfällen, oder wenn der
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