Und Jimmy ging zum Regenbogen
übertönen. Die Lokomotive stieß einen langen, klagenden Schrei aus, einen zweiten, einen dritten – sie blieben unhörbar. Ein Schaffner riß Valerie aus den Armen ihres Mannes.
»Einsteigen! Sind Sie deppert, Herr? Wir fahren doch schon!«
Tatsächlich hatte der Zug sich bereits in Bewegung gesetzt. Der gereizte Schaffner half Steinfeld auf das Trittbrett des Waggons, der vorüberglitt, stieß ihn weiter, sprang nach und schlug die Tür zu. Im nächsten Moment hatte Steinfeld das Fenster heruntergezogen und streckte eine Hand nach Valerie aus. Sie packte sie und begann zu laufen. Nun haben wir uns nicht einmal mehr küssen können, dachte sie.
Der Bahnsteig war verstopft mit winkenden, schreienden, weinenden Menschen. Valerie prallte mit vielen zusammen, hart und schmerzhaft, sie strauchelte, sie wäre gestürzt und unter die Räder geraten, wenn Steinfelds große, starke Hand sie nicht gehalten, eisern festgehalten hätte.
»Und so kann ich vor der Geschichte melden …«
»Führer, befiehl, wir folgen dir! Führer, befiehl, wir folgen dir!«
Valerie sah, daß ihr Mann etwas schrie.
»Ich verstehe nicht!« schrie sie zurück.
Er neigte sich aus dem Fenster, jetzt brüllte er.
»Kein Wort kann ich verstehen!« rief sie verzweifelt. Der Zug rollte nun schon schneller, das Ende des Perrons kam in Sicht.
Paul Steinfeld schrie, so laut er konnte. Alles, was Valerie hörte, war: »… tun …«
»Was tun? Was«
»… vor der Geschichte melden: Meine geliebte Ostmark …«
»Heil! Heil! Heil! Heil!«
Valerie verlor einen Schuh. Steinfeld bemerkte es. Blitzschnell ließ er ihre Hand los. Knapp vor dem Ende des Bahnsteigs vermochte Valerie, zunächst wild taumelnd, das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Als sie aufblickte, sah sie, daß ihr Mann, nun schon weit entfernt, immer noch winkte und schrie. Sie winkte zurück.
»Meine geliebte Ostmark ist heimgekehrt …«
»Sieg Heil! Sieg Heil! Sieg Heil!«
Der letzte Waggon glitt vorbei. Valerie sah ihren Mann nicht mehr. Der lange Zug ging in eine weite Kurve zwischen vielen Gleisen und weißen, roten und grünen Lichtern. Seine Schlußlaternen verschwanden.
Valerie humpelte zurück zu der Stelle, wo ihr Schuh lag. Sie bückte sich, um ihn anzuziehen.
»… heimgekehrt in das Reich der Deutschen!«
Rasendes Gebrüll setzte wieder ein.
»Ein Volk, ein Reich, ein Führer! Ein Volk, ein Reich, ein Führer!«
Valerie richtete sich auf. In der geschlossenen Linken hielt sie das abgerissene Stück Papier. Es bedrückte sie sehr, daß es ihr unmöglich gewesen war, zu verstehen, was ihr Mann zuletzt immer wieder geschrien hatte. Es bedrückte sie die nächsten vier Jahre lang.
36
Der kleine Ofen im Teekammerl donnerte richtig.
»Es geht Ihrem Mann gut, Frau Steinfeld«, sagte Nora.
Valerie schloß kurz die Augen, senkte den Kopf und biß sich auf die Unterlippe. Als sie sprach, sah sie zu Boden und ihre Stimme war unsicher: »Vier Jahre … mehr als vier Jahre lang habe ich auf diese Stunde gewartet …« Sie hob den Kopf und sah ihre Besucherin mit blauen Augen an, die nun feucht und so erfüllt von Glück waren, daß Nora ganz elend wurde. »Ich danke Ihnen. Danke. Ich danke Ihnen …« Sie sagte immer wieder dasselbe. Und immer elender wurde Nora bei dem Gedanken, was sie dieser Frau noch zu berichten hatte. Ausgerechnet ich, dachte sie erbittert. Ich bin nicht geschaffen für so etwas. Zum Kotzen ist das alles. »Warum sehen Sie mich so böse an?« fragte Valerie verständnislos.
Ich lasse mich gehen, dachte Nora, zornig auf sich selber, und antwortete: »Böse? Was für ein Unsinn! Weshalb sollte ich sie böse ansehen?«
»Oder geht es Paul doch nicht gut? Ist er krank? Seine Leber! Er hat doch immer mit seiner Leber zu tun gehabt! Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit! Ich …«
»Hören Sie auf! Sie müssen mir glauben, was ich sage. Es ist die reine Wahrheit. Wenn Sie mir nicht glauben wollen …«
»Ich will, ich will!« Valerie wischte mit staubiger Hand eine Haarsträhne fort, die in die Stirn gefallen war. »Bitte, Fräulein Hill! Sie müssen das doch verstehen: Vier Jahre habe ich nichts gehört von ihm! Keine Zeile habe ich erhalten. Beschlagnahmt, sie werden alles beschlagnahmt haben, was er schrieb.«
»Sicherlich. Mußten Sie viel durchmachen?«
»Schön war es nicht. Hausdurchsuchungen. Verhör im Hotel ›Metropol‹, bei der Gestapo. Den Paß haben sie mir weggenommen, wie der Mann damals es prophezeit hat. Und immer wieder
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