Und Jimmy ging zum Regenbogen
einmal überlegt. Wer weiß, in welche Lage wir beide geraten. Wenn jemand kommt, mußt du ganz sicher sein. Genauso, wie ich ganz sicher sein muß.«
»Du?« Auch sie sprach immer in sein Ohr. Um sie herum drängten, stießen und brüllten Menschen. »Wieso du?«
»Es ist doch denkbar, daß du jemanden findest, der mich erreichen kann. Dem gibst du dein Papierstück mit.«
»Aber du hast dann nur
ein
Erkennungszeichen.«
»Ich bin dann in England, hoffentlich! Du bleibst hier. Du bist viel gefährdeter als ich. Nicht, bitte nicht, Valerie! Bitte, mein Herz, nicht weinen …«
»Ich will ja nicht weinen«, schluchzte sie. »Es … es hat ganz von selber angefangen … Ich kann nichts dafür … Es ist so schrecklich … Ich habe solche Angst um dich …«
Er legte beide Arme um sie.
Denkst du, ich habe keine Angst um dich, dachte er. Noch nie im Leben hatte ich solche Angst um einen Menschen wie um dich, meine Liebe, die zurückbleibt, allein und hilflos, der ich nicht helfen kann, der niemand helfen kann, dieser Mann von ›Gildemeester‹ hat es mir gesagt.
Die ›Organisation Gildemeester‹ brachte mit holländischem Geld und mutigen Helfern seit Jahren an Leib und Leben bedrohte Menschen vor den Nazis ins Ausland. Die Helfer besaßen Pässe, Visa- und Prägestempel, sie lieferten falsche Papiere über Nacht, wenn es sein mußte. In Paul Steinfelds Fall hatte es über Nacht sein müssen. Er war nicht nur einer der ersten Nachrichtensprecher von Radio Wien, er war auch viele Jahre lang Erster politischer Kommentator gewesen. Er stand auf den Verhaftungslisten der Nazis, das wußte die ›Organisation Gildemeester‹. Deshalb holte sie ihn nun aus dem Land, so schnell wie möglich.
Aber eben nur
ihn
…
»Für Ihre Frau und Ihren Sohn können wir leider nichts tun«, hatte der Mann gesagt. »Pässe sind Mangelware. So viele absolut Gefährdete müssen noch gerettet werden. Ihre Frau und Ihr Sohn sind nicht absolut gefährdet. Man wird sie ständig im Auge behalten, man wird Ihre Frau verhören, ihr den Paß abnehmen und alle Post beschlagnahmen, die aus dem Ausland kommt – aber man wird ihr zumindest vorerst nichts Schlimmes tun. Es ist bedauerlich, aber Sie können Ihre Frau nicht nachkommen lassen, auch den Jungen nicht. Die Nazis werden die beiden nie emigrieren lassen – immer in der Hoffnung, etwas zu erfahren, wenn Sie getrennt bleiben. Also seien Sie vorsichtig mit jeder Zeile, die Sie schreiben. Schreiben Sie am besten gar nicht. Schrecklich, ich weiß. Aber wir haben einfach nicht genug Pässe. Machen Sie das alles Ihrer Frau klar …«
Paul Steinfeld hatte es Valerie klargemacht.
Und nun, dachte er, sagt sie, daß sie Angst um mich hat. Um mich! Und ich darf ihr nicht zeigen, wie groß meine Angst um sie ist. Ich darf nicht zeigen, wie wenig Mut ich selbst besitze.
»Angst?« Steinfeld grinste. »Mir passiert schon nichts! Ubi bene, ibi patria. Übersetzt: Wo meine Beine sind, da ist mein Vaterland!«
Sie mußte unter Tränen lächeln.
Nun ist
mir
zum Heulen, dachte er, und flüsterte in ihr Ohr: »Du darfst das Lachen jetzt nicht verlernen! Ich will eine lachende Frau sehen, wenn ich wiederkomme!«
»Wenn … du … wiederkommst …«
Hitlers Stimme überschlug sich: »Mit heißem Herzen und fanatischer Entschlossenheit habe ich an meinem großen Ziel gearbeitet, die Ostmark, diesen blühenden Garten, heimzuholen in jene Gemeinschaft, in die sie seit undenklichen Zeiten gehört …«
Die Membranen der Lautsprecher klirrten wieder.
»Sieg Heil! Sieg Heil! Sieg Heil!«
»Natürlich komme ich wieder«, sagte Paul Steinfeld, immer in Valeries Ohr sprechend. »Was hast du denn gedacht? Bald komme ich wieder …« Ja, bald? Werde ich jemals wiederkommen können? Es wird wieder Krieg geben, dachte er. Ich bin dreiundvierzig. Als ich 1914 freiwillig in den Weltkrieg zog, da schrien sie alle, auch auf einem solchen Bahnhof: »Zu Weihnachten sind wir wieder zu Hause!« Zu Weihnachten zu Hause. Wie lange wird dieser neue Krieg dauern? Steinfeld sagte zärtlich: »Daß du mir also unter keinen Umständen das Lachen verlernst. Sonst lasse ich mich scheiden, verstanden?«
Valerie nickte lächelnd unter Tränen. Sie preßte ihren Körper noch einmal gegen den seinen.
»Gott der Allmächtige hat meinen Traum Wirklichkeit werden lassen! Und so kann ich vor der Geschichte …«
»Sieg Heil! Sieg Heil! Sieg Heil!«
Hitlers Stimme gelang es nicht mehr, den Jubel der Linzer zu
Weitere Kostenlose Bücher