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Und kurz ist unser Leben

Und kurz ist unser Leben

Titel: Und kurz ist unser Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Briefe
aufhob, die durch den Briefschlitz auf den Türvorleger gefallen waren, und die
Wohnung betrat.
    Im Arbeitszimmer waren — wie
Lewis bereits wusste — auch Anzeichen eines eher heiteren Temperaments
auszumachen. Das Zimmer war in Sonnenbraun, Terracotta und Weiß gehalten, an
der einzigen Wand, die nicht die sonst allgegenwärtigen Bücher, CDs und
Kassetten mit Beschlag belegten, hing ein bunter Matisse. Auf dem Schreibtisch
stand eine rote Gelenklampe, daneben eine fast leere Flasche Glenfiddich und
ein leerer Whiskybecher. Morse hatte seinen Abgang zeitlich recht gut geplant.
    Lewis setzte sich und sah rasch
die Briefe durch: Telecom, British Diabetic Association, Lloyd’s Bank, Oxford
Brookes University. Alles wohl keine Privatpost; trotzdem machte er die Briefe
nicht auf. Irgendjemand würde hier noch das eine oder andere regeln müssen,
aber dafür fühlte er sich nicht zuständig. Er, Lewis, hatte hier nur eine
einzige Mission.
    Im zweiten Schubfach links fand
er sechs Fotos. Einen alten Schwarzweiß-Schnappschuss, Mann und Frau in
mittleren Jahren; die Züge des Mannes zeigten eine gewisse Ähnlichkeit mit
denen von Morse. Die Porträtaufnahme einer blonden jungen Frau, auf der
Rückseite ein paar handgeschriebene Worte: «Ich wünschte — da geht es mir wie
dir —, dass vieles anders gelaufen wäre. In Liebe stets — W». Ein kleineres
Foto mit einem Vermerk in Morses Handschrift: «Sue Widdowson vor ihrer
Verhaftung.» Ein Ferienfoto von einem jungen Paar an einem Strand; die dunkelhaarige,
braun gebrannte junge Frau in weißem Bikini lächelte strahlend, der junge Mann
hatte ihr den rechten Arm um die Schultern gelegt. Auch hier ein Vermerk auf
der Rückseite: «Das glückliche Aussehen täuscht. Du fehlst mir irrsinnig!!!
Ellie.» An das Foto einer attraktiven Frau in Schwesterntracht war mit einer
Büroklammer ein kurzer Brief mit einem Absender und einer Telefonnummer in
Carlisle geheftet: «Ich verstehe. Nur überlege ich immer wieder, wie es uns
beiden zusammen ergangen wäre. Auch ich hätte ein Stück Unabhängigkeit opfern
müssen. Denk immer daran, dass ich dich liebe. J.» Und das letzte Foto: Morse
und Lewis, Seite an Seite neben dem Jaguar. Auf der Rückseite kein Text.
    Lewis wählte die Nummer in
Carlisle, aber dort meldete sich niemand.
    Rechts vom Schreibtisch lag ein
gelber Aktendeckel mit unordentlichen Papieren auf dem Boden, als sei er
versehentlich heruntergefallen. Auf der Vorderseite stand: «Zu Händen von
Lewis».
    Obenauf lag das Formular D1/D2
der Anatomie in der South Parks Road, vom Spender unterschrieben und von dem
gleichen Mann gegengezeichnet, der das zweite A4-Blatt beglaubigt hatte, das
sich Lewis jetzt vornahm:
     
    MEIN LETZTER WILLE
     
    Ich verbiete ausdrücklich jede
Mitwirkung der Geistlichkeit bei meiner Beerdigung und wünsche auch hinterher
keinen Gedenkgottesdienst. Wer meiner gedenken will, tue das still für sich.
    Falls dieser handgeschriebene
Text rechtsgültig ist, was man mir glaubhaft versichert hat, dürfte es mit der
Regelung meines Nachlasses keine Probleme geben. Soweit ich weiß, habe ich
keine direkten Nachkommen mehr, und auch wenn es anders wäre, würde das nichts
an der Lage ändern.
    An weltlichen Gütern besitze
ich meine (inzwischen schuldenfreie) Wohnung samt Inhalt, u. a. zahlreichen
seltenen Erstausgaben, zwei Versicherungspolicen und Guthaben auf zwei Konten
der Lloyd’s Bank. Alles in allem dürfte es sich um einen derzeitigen
Verkehrswert von etwa £ 150 000 handeln.
    Es ist mein Wunsch, dass
besagter Besitz nach Abzug der anfallenden Gebühren in drei Teile (wie Gallien)
geteilt wird, und zwar (nicht wie Gallien) in drei gleichen Teilen an folgende
Vermächtnisnehmer geht:
    a) die British Diabetics
Association
    b) Schwester Janet McQueen
(Anschrift siehe Adressenverzeichnis)
    c) Sergeant Lewis, meinen
Kollegen bei der Thames Valley Police.
     
    Minutenlang saß Lewis ganz
still da. Ohne sich zu rühren, aber sehr gerührt. Warum Morse der Kirche so
erbitterte Abneigung entgegenbrachte, wusste er nicht und würde er nun auch
nicht mehr erfahren. Und warum Morse gerade ihn so großzügig bedacht hatte...
    Er war immer noch ganz
durcheinander, als er es — wieder erfolglos — noch einmal bei der Nummer in
Carlisle versuchte.
    Im Badezimmer spülte er das
leere Glas aus, schenkte sich im Arbeitszimmer den letzten Rest Glenfiddich
ein, setzte sich wieder, hob stumm sein Glas und trank.
    Dann nahm er sich den
restlichen

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