Und kurz ist unser Leben
allein sein.
Der Abschluss des Falles
Harrison war in etwa, allerdings nicht ganz so verlaufen, wie Morse
vorausgesagt hatte. Zwei Stunden, nachdem ihr Vater zur Vernehmung ins
Präsidium gebracht worden war, hatte sich Sarah Harrison (die es abgelehnt
hatte, mit ihrem Vater zu sprechen) freiwillig gestellt und den Mord an ihrer
Mutter gestanden. Sie entschuldigte sich für nichts — nur für den Kummer und
Schmerz, den sie ihrem Vater zugefügt hatte. Was jetzt mit ihr geschah, sagte
sie, sähe sie nicht als Haft, sondern eher als eine Art Befreiung.
Frank Harrison mochte das —
wenn auch später — ganz ähnlich empfunden haben. Nach und nach hatte er
(weniger wortreich als seine Tochter) seine vielfachen Sünden und Missetaten
gestanden, unter anderem den Mord an John Barron, dem Liebhaber seiner Frau.
Nach dem verzweifelten Anruf
seiner Tochter in jener Nacht hatte er ganz planmäßig gehandelt. Er war mit dem
Zug nach Oxford und mit dem Taxi zu dem Haus in Lower Swinstead gefahren, aus
dem Barron längst geflüchtet war und wo sich — für Harrison zunächst unsichtbar
— Repp noch herumdrückte. Harrison hatte Flynn bezahlt und in der Erwartung,
dass dieser sofort losfahren würde, anschließend seine verzweifelte Tochter
heimgeschickt. Kühl und skrupellos hatte er die Zügel in die Hand genommen.
Verwirrung zu stiften war seine einzige Hoffnung. Glücklicherweise hatte jemand
Yvonne — wohl für eine bizarre Fesselungsnummer — bereits die Handschellen
angelegt. Er band ihr locker einen Knebel um, ging in den Patio, schlug von
außen die Scheibe der Terrassentür ein und schloss die Tür auf. Dann machte er
überall im Haus Licht, zog im Erdgeschoss und im ersten Stock die Schnur von
Fernseher und Telefon heraus und verfiel schließlich in seiner Verzweiflung auf
die Idee, die Alarmanlage zu aktivieren. Wenn auch niemand sie hörte, würde man
später in den Akten nachlesen können, dass sie ausgelöst worden war.
So weit, so gut. Blieb die
Polizei, die er unverzüglich verständigen musste. Vom Haus aus anrufen konnte
er sie nicht, dafür hatte er gerade selbst gesorgt. Aber er hatte ja ein Handy,
über das er bereits mehrmals vom Zug und einmal von Flynns Taxi aus mit Sarah
gesprochen hatte. Ein Handy konnte man verlieren. Und je länger er den Anruf
aufschob, desto besser standen die Chancen für die von ihm geschaffene
Konfusion. In Krimis hatte er oft gelesen, wie schwer sich die Pathologen
taten, die Zeitparameter für einen Mord festzustellen. Ganz einfach: Er würde
die halbe Meile bis zum nächsten Haus laufen (nein, sprinten). Er wollte sich
gerade auf den Weg machen, als ihn am Tor zur Auffahrt jemand ansprach. Flynns
Frage war ihm wortwörtlich im Gedächtnis geblieben:
«Brauchen Sie einen, der Ihnen
unter die Arme greift, Sir?»
Epilog
Die
Götter lieben offenbar Ironie; sie bestrafen dich eher für deine Tugenden als
für deine Sünden.
(Ernest
Dowson, Letters)
«Wollen Sie nichts essen?»
«Nein, danke, Sir. Zu Hause
wartet das Abendessen auf mich.»
«Ja, natürlich.»
«Und ich hatte keine Lust,
Dixon beim Krapfenfuttern zuzusehen.»
«Das kann ich verstehen.»
Strange ließ sich vorsichtig auf dem seinem Umfang unangemessenen Stuhl Lewis
gegenüber nieder. «Apropos essen, Lewis — was um Himmels willen fressen Sie
bloß in sich hinein?»
Lewis hatte sich, wie wir
wissen, auf eigenen Wunsch mit dem Fall Harrison nicht mehr beschäftigt, hatte
sich mit einigem Erfolg bemüht, Abstand zu der ganzen Geschichte zu gewinnen
und möglichst nicht mehr daran zu denken. Da war nur dieser eine hartnäckige
Gedanke, der an ihm zerrte wie ein verwöhntes Kind im Supermarkt am Rockzipfel
seiner Mutter: der Gedanke, dass sich Morse nach eigenem Eingeständnis und zum
ersten Mal in ihrer Zusammenarbeit unehrlich und unehrenhaft verhalten hatte.
Er sah zu Strange hoch. «Wie
meinen Sie das?»
«Na, hören Sie mal, Lewis! Ich
bin doch nicht von gestern.»
Lewis gab sich einen Ruck und
erzählte, was ihm von Anfang an nicht geheuer an dem Fall gewesen war: dass
Morse so wenig und dann wieder zu viel über die Sache gewusst hatte; dass er
sich zunächst mit Händen und Füßen gewehrt hatte, den Fall zu übernehmen, und
dann die letzten Tage seines Lebens fast ausschließlich damit zugebracht hatte,
ihn in seiner ganzen Vielschichtigkeit auszuloten.
«Und das ist alles?»
«Alles?»
«Jetzt verraten Sie mir mal,
was er Ihrer Meinung nach schlimmstenfalls verbrochen
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