Und kurz ist unser Leben
Inhalt des Aktendeckels vor. Es war ein Manuskript in der sauberen,
aufrechten Handschrift von Morse. Auf der ersten Seite stand «Notizen zum Fall
Harrison». Lewis beschloss, sich diese Aufzeichnungen später vorzunehmen, und
legte die anderen beiden Blätter obenauf. Er hatte sich schon zum Gehen
gewandt, doch dann zog er noch einmal das zweite Schubfach heraus, holte das
Jaguar-Foto hervor und gab es zu den anderen Unterlagen.
Dabei sah er, dass ganz hinten
in dem Schubfach noch etwas lag.
Es waren ein Paar Handschellen.
Kapitel
79
Der
Himmel kennt keinen Zorn,
Der
schlimmer ist als Liebe, die zu Hass sich wandelt,
Die
Hölle keine Wut wie die einer verschmähten Frau.
(Congreve, The Mourning Bride)
Wenn
Sie schuldig sind, werden Sie’s beweisen müssen.
(Groucho
Marx)
Noch am gleichen Abend las
Lewis, was Morse geschrieben hatte. Die Ausführungen waren ihm im Wesentlichen
schon bekannt, auf den letzten drei Seiten aber begegnete ihm ein völlig neuer
Gedankengang.
Von
Anfang an gab es in diesem Fall einen Mann, der sich vor allen anderen durch
Zielstrebigkeit, Kühnheit und klares Denken auszeichnete, nämlich Frank
Harrison. Sexuell fühlte er sich nach wie vor zu Yvonne hingezogen, umgekehrt
war das allerdings nicht mehr der Fall. Im Krankenhaus erzählte sie mir eines
Nachts, dass sie ihren Fuß an ihrer Seite über die Matratze zu haken pflegte,
um eine Art Niemandsland zwischen sich und ihm zu schaffen. Ohne Sex aber
konnte sie nicht sein. Sie betrieb ihn als aktiv Handelnde wie auch als fast
süchtige Zuschauerin. (Sie hatte mir von so genannten Amsterdam-Videos erzählt;
ich habe im Haus nichts dergleichen gefunden und vermute daher, dass sie sich
unter unschuldigen Etiketten wie Dschungelbuch oder Kochen mit
Kräutern verbargen.)
Frank
Harrison war — ist — offenkundig ein Mann mit sehr starkem Geschlechtstrieb,
und zweifellos forderte er bei seinen sporadischen Besuchen in Lower Swinstead
seine ehelichen Rechte ein. Andererseits wusste Yvonne zweifellos, was er
trieb, wenn sie getrennt waren, ebenso wie er es im umgekehrten Fall von ihr
wusste. Ich sehe deshalb bei Frank Harrison kein zwingendes Motiv für den Mord
an seiner Frau. Die Gelegenheit hätte er möglicherweise gehabt, aber sein Alibi
blieb unangefochten, da es zunächst keinen Grund dafür gab, Flynns eindeutige
Aussage anzuzweifeln, er habe Harrison am Bahnhof in Oxford aufgenommen und zu
dessen Villa in Lower Swinstead gefahren.
Ich
bin zu der Ansicht gelangt (und freue mich darauf, Frank H. in dieser Sache zu
befragen), dass Flynn nicht für eine Falschaussage im Hinblick auf diese Fahrt,
sondern für etwas ganz anderes bezahlt wurde.
Bis
vor kurzem dachte ich, Simon hätte seine Mutter ermordet. Dass er seine
geliebte Mum mit dem Maurer aus dem Ort im Bett gefunden hatte, war Motiv
genug. Und die anderen Fakten ließen sich lückenlos in diese Hypothese
einfügen: Repp, ein in der ganzen Gegend als zwielichtig bekannter Typ und
Stammgast im Maiden’s Arms, kannte ihn; Barron kannte ihn natürlich; und
auch Flynn kannte ihn, da die beiden gemeinsam bei Lippenlesekursen gewesen
waren.
Wie
Sie wissen, habe ich in diesem Punkt völlig falsch gedacht.
Aber
da gab es eine Person, die ein noch zwingenderes Motiv hatte, auf die alle
Fakten ebenso gut paßten, und das war Sarah Harrison. Und welches Motiv konnte
das sein? Sehr einfach: Sie und Barron hatten seit etwa einem Jahr vor dem Mord
anYvonne ein heimliches Verhältnis. Einzelheiten habe ich von zwei
erstaunlichen Zeugen erfahren, von Alf und Bert, Gästen im Maiden’s Arms; besonders
von Bert, der die beiden im Three Pidgeons in Witney und im White
Hart in Wolvercote gesehen hatte, als er dort bei Cribbage-Turnieren gewesen
war. Ich denke mir, dass auch andere in Lower Swinstead davon gewusst, aber
eisern geschwiegen haben. An jenem verhängnisvollen Abend betrat Sarah
unangemeldet ihr Elternhaus und fand ihren heimlichen Liebhaber mit ihrer
Mutter im Bett. Repp und Barron kannten Sarah natürlich — aber wie paßt der
opportunistische Flynn ins Bild? Inzwischen steht zweifelsfrei fest, dass auch
er Sarah recht gut kannte, denn in den Jahren vor dem Mord waren sie zusammen
in einer Popgruppe in Pubs und Clubs in West Oxfordshire aufgetreten,
allerdings nie im Maiden’s Arms.
Ja,
und das war’s dann wohl, Lewis.
Nur
eine letzte Frage gilt es noch zu klären. Die Mordwaffe wurde nie gefunden. Sie
werden sich aber erinnern, dass in dem
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