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Und kurz ist unser Leben

Und kurz ist unser Leben

Titel: Und kurz ist unser Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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gelegen hatte. Frank
Harrison konnte, wenn man seiner Freundin glauben wollte, in jener Nacht seine
Frau nicht ermordet haben, die Polizei hatte ihn demnach bei ihrer
ursprünglichen Ermittlung zu Recht von der Liste der Verdächtigen gestrichen.
Allerdings hatte er, Lewis, es oft genug erlebt, dass Morse, nachdem in seiner
Argumentation ein folgenschwerer Fehler aufgetaucht war, plötzlich wie aus
heiterem Himmel die richtige Lösung gefunden hatte.
    Doch das war nun ein für alle
Mal vorbei.
    Erst als sie durch den
Einschnitt der Chilterns bei Stokenchurch fuhren, machte Harrison wieder den
Mund aut.
    «Das ist jetzt das Habitat des
Roten Milans. Wussten Sie das, Sergeant?»
    «Ja. Ich selbst verstehe nichts
von Vögeln, meine Frau streut ihnen nur ab und zu ein paar Nüsse hin...»
    Kein besonders bemerkenswerter
Wortwechsel, sollte man meinen...
    Nachdem Dixon von der M40 auf
die A40 in Richtung Oxford abgebogen war, sagte Harrison:
    «Auf das Wiedersehen mit Morse
freue ich mich. Ich habe ihn bei der Beerdigung von Barron kennen gelernt, aber
da haben wir uns nicht besonders gut verstanden. Meine Tochter Sarah kennt ihn
näher, sie behandelt ihn im Radcliffe. In mancher Beziehung ein eigenartiger
Mensch, wie sie sagt, aber interessant und sehr gescheit. Allerdings meint sie,
dass er wohl nicht genug auf seine Gesundheit achtet.»
    Lewis schwieg.
    «Warum ist er nicht selber nach
Heathrow gekommen? War das nicht ursprünglich geplant?»
    «Ja, ich denke schon.»
    «Treffen wir uns in St. Aldate
oder in Kidlington?»
    «Weder noch. Chief Inspector
Morse ist tot.»
     
     
     
     

Kapitel
77
     
    Sehr
geehrte Dame, sehr geehrter Herr,
    bitte
nehmen Sie zur Kenntnis, dass in der Wählerliste eine Eintragung unter Ihrem
Namen gestrichen wurde, und zwar aus folgendem Grund:
    TOD.
    Sollten
Sie Einwände haben, teilen Sie mir das bitte unter Angabe von Gründen bis
spätestens 25. November 1998 mit.
     
    Hochachtungsvoll
     
    (Mitteilung
des Grafschaftsrats Carlow an einen einstmaligen Wähler)
     
    Im Präsidium berichtete Lewis
dem Chief Superintendent von dem erstaunlichen Alibi, das Maxine Ridgway
anscheinend in aller Unschuld geliefert hatte.
    Mehr konnte er nicht tun.
    Mehr hatte er nicht zu geben.
    Im Gegensatz zu Morse, der
stets große Stücke auf Pillen in allen Farben, Formen und Größen gehalten hatte,
hätte Lewis kaum sagen können, wann er — abgesehen von dem ihm zum Frühstück
mit sanfter Gewalt aufgedrängten Vitamin C — jemals etwas genommen hatte. Er
staunte deshalb nicht schlecht, als er den großen Vorrat an verschiedenartigen
Medikamenten sah, über den Mrs. Lewis gebot. Ehe er sich an jenem Abend
(beispiellos früh) hinlegte, schluckte er zwei Schlaftabletten und schlief wie
das sprichwörtliche Murmeltier.
    Am nächsten Tag fuhr er um halb
elf zur Leichenhalle.
    Die Augen waren geschlossen,
aber das wächserne Gesicht wirkte nicht sehr abgeklärt; man meinte noch einen
Hauch von Schmerz darauf zu erkennen. Wie den meisten Menschen, die vor einem
Toten stehen, gingen auch Lewis mancherlei Gedanken durch den Kopf. Er dachte
an das großartige Gedächtnis, die Liebe zu Musik und Literatur, vor allem an
die Fähigkeit, in alle Richtungen — waagerecht, senkrecht, diagonal — zu
denken, wie immer das bewundernswerte Hirn es wollte. Und das war nun alles
dahin. Der Tod hatte jene einst zusammenhängenden Atome in alle Winde
verstreut, und Morse würde sich nie mehr bewegen, nie mehr denken, nie mehr
sprechen.
    Lewis sah sich fast ein
bisschen schuldbewusst um, aber in diesem Augenblick war er mit Morse allein.
Er beugte sich vor, legte die Lippen auf die Stirn des Toten und flüsterte ein
letztes leises Lebewohl.

Kapitel
78
     
    &
und dass man mich nicht in geweihter Erde begrabe
    &
dass kein Küster die Glocken läute
    & dass
mich bei der Beerdigung keine Leidtragenden begleiten
    & dass
auf mein Grab keine Blume gepflanzt werde.
    (Thomas
Hardy, Der Bürgermeister von Casterbridge)
     
    Morse war zu Lebzeiten immer
mehr auf Adagio als auf Allegro gestimmt gewesen, und sein Zuhause war ein
Spiegelbild dieser schwermütigen Veranlagung. Die pastellfarbenen Wände, über
die noch die Musik von Wagner, Bruckner und Mahler zu geistern schien,
schmückten düstere Drucke von Rembrandt, Vermeer und Atkinson Grimshaw, und im
Obergeschoss wie im Erdgeschoss waren sämtliche Räume zugebüchert.
    Es war sehr still, als Lewis
zwei Halbliterflaschen fettarme Milch von der Schwelle nahm, vier

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