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Und kurz ist unser Leben

Und kurz ist unser Leben

Titel: Und kurz ist unser Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Jahren.»
    «Das ist es, was Sie fertig
macht, stimmt’s? Dass Sie den alten Morse nicht mehr so achten können wie
früher.»
    «Nicht mehr so ganz, nein.»
    Strange rappelte sich auf. «Es
war gut, ein paar Worte mit Ihnen zu reden, aber jetzt muss ich wieder nach
unten.»
    Auch Lewis war aufgestanden.
«Mrs. Lewis lässt herzlich grüßen, Sir.»
    Sie schüttelten sich die Hand,
und damit war das interessante Gespräch scheinbar zu Ende.
    Nur scheinbar.
    Auf halbem Wege zur Tür drehte
sich Strange unvermittelt um und kam an den Tisch zurück.
    «Erinnern Sie sich an die
Ausgabelisten für Handschellen, Lewis?»
    «Es ist lange her...»
    «Es sind einfache
handgeschriebene Aufstellungen, die von Zeit zu Zeit auf den neuesten Stand
gebracht werden: Datum, Name, Rang, Seriennummer. So was in der Art.» Strange
holte ein A4-Blatt aus der inneren Jackentasche. «Aber an die Seriennummer der
Handschellen, die Sie in Morses Schreibtisch gefunden haben, erinnern Sie
sich?»
    «Neun-zwei-zwei.»
    Strange drückte Lewis das Blatt
in die Hand. «Sie haben ein gutes Gedächtnis.»
    «Wo haben Sie das her?»
    «Jemand hat es aus dem
Präsidium mitgehen lassen. Morse.»
    Lewis sah die Liste durch, ohne
auf den Namen Morse zu stoßen. Dafür las er an siebenter Stelle einen anderen
Namen:
     

     
    «Soll das heißen...?»
    «Das heißt, Lewis, dass Morse
von meinem Verhältnis mit Yvonne Harrison wusste. Ich habe keine Ahnung, wie er
Wind davon bekommen hat, aber er hatte ja immer eine gute Witterung. Er hat das
Blatt an sich genommen und behalten, bis meine Frau unter der Erde war. Dann
hat er es mir gegeben. Ohne die Handschellen könne ich nichts damit anfangen,
meinte er, und die würde er behalten für den Fall, dass ich irgendwann mal
versucht sei, eine Dummheit zu begehen. Und dann hat er genau das gesagt, was
ich vorhin zu Ihnen gesagt habe: Nichts, was damals geschah, hat die
Ermittlungen auch nur im Mindesten beeinflusst. Ist das klar, Lewis?»
    Ja, es war klar. «Morse hat
also Sie gerettet... und Mrs. Strange gerettet...»
    «Es hätte sie vernichtet»,
sagte Strange leise. «Und mich auch. Wir wären beide daran kaputtgegangen.»
    «Sie hat es nie erfahren?»
    «Sie hatte nie die leiseste
Ahnung. Dank Morse.»
    Lewis schwieg.
    «Genauso wenig wie Sie. Nicht
nur in dieser Sache. Sie haben zum Beispiel sicher nicht gewusst, dass ich den
Fall Harrison auf der Grundlage von zwei erfundenen Anrufen wieder aufgerollt
habe.»
    «Soll das heißen...?»
    «Das soll heißen, Lewis, dass
es diese Anrufe nie gegeben hat.»
    «Ich wusste ja nicht...»
    «Keiner wusste es, bis auf
Morse natürlich, der hat es sich sofort gedacht. Aber ich wette, er hat es
Ihnen nicht erzählt. Er wollte mich nicht im Stich lassen.»
    «Aber warum hat er mir nichts
davon gesagt? Es wäre... zum Schluss... es wäre so wichtig gewesen...»
    «Keine Ahnung. Er war immer ein
verdammt unabhängiger Typ. Und ein loyaler und anständiger Kerl, aber das
brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Und was andere Leute einschließlich meiner
Wenigkeit von ihm dachten, war ihm nie besonders wichtig. Wichtig war ihm nur
Ihre gute Meinung, Lewis. Und deshalb will ich Ihnen noch was sagen. Es ist
verdammt hart, mit einer Schuld zu leben, so wie ich es tue. Die meisten Leute
begreifen das früher oder später. So wie Frank Harrison es begriffen hat. Und
Sarah Harrison. Ich kann nur hoffen, dass Sie so was nie durchmachen müssen.
Aber die Gefahr besteht wohl nicht. So wie sie auch bei Morse nicht bestanden
hat. Er hat mir mal erzählt, wann ihn das schlechte Gewissen am ärgsten geplagt
hat: Als ihn zwei Kollegen dabei erwischten, wie er im Zeitungsladen in Summertown
in einem dieser Po- und Busenhefte blätterte. Also denken Sie weiter gut von
ihm, Lewis, mehr verlange ich nicht.»
    Der einstmalige Chief
Superintendent bewegte sich schwerfällig durch die verlassene Kantine, um sich
unten wieder in die Lustbarkeiten zu stürzen.
    Lewis blieb, wo er war.
    Bis auf die ältere Frau hinter
dem Tresen, die in der Sun las, war der Raum leer. Und nachdem er sich
so schuldbewusst umgesehen hatte wie seinerzeit Morse im Zeitungsladen von
Summertown, vergoss er in seinem Kummer leise ein paar Tränen.

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