Und meine Seele ließ ich zurueck
André, mein Kind ...«
Jeanne-Maries Worte verschaffen ihm eine vollkommen unverhältnismäßige Emotion, als wären all jene, die er liebt, seit über tausend Jahren tot und als hätte er soeben die letzte Spur ihres Aufenthaltes auf Erden entdeckt. Die Zukunft ist weggefegt und völlig überschwemmt worden, seine Frau ist nur mehr Staub und beschwört aus der Tiefe ihres Grabes herauf mit hanebüchener Grausamkeit den Geburtstag eines kleinen Mädchens, tot seit langer Zeit. Capitaine Degorce unterbricht seine Lektüre. Er überfliegt geistesabwesend einen Brief seiner Eltern, dann einen weiteren, einen von seinem Schwager Marcel, der ihn seit den Ufern des verhassten Niger zur Vertrauensperson seiner hypochondrischen Delirien erwählt zu haben scheint und ihn halsstarrig mit verzweifelten Briefen überschwemmt, in denen es aufgrund eines schaurigen Bestiariums, welches er mit beunruhigender Genauigkeit beschreibt, nur so wimmelt vor lauter Augen- und Leberparasiten, vor menschenfressenden Larven, auf der Lauer liegenden Untieren der tropischen Feuchtigkeit, besessenen Negern, und er beweint auf unermüdliche Weise sein baldiges Verschwinden sowie den Sohn, den er nie mehr wiedersehen würde. Mit jedem neuen Brief erklärt Marcel ihm, dass er aufgrund eines Wunders eine tödlich verlaufende Krankheit dennoch überlebt habe, er am gleichen Tage jedoch noch die Symptome derjenigen erkannt hätte, die ihn hinwegraffen werde, und Capitaine Degorce wünscht sich darüber beinahe, dass er ein für alle Male krepieren möge.
»André, mein Kind, Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie sehr Du mir fehlst. Häufig träume ich, dass diese furchtbaren Ereignisse vorbei sind und Du in unsere Nähe zurückkehrst. Ich bin sicher, dass dieser Tag kommen wird, vielleicht schon recht bald. André, vergiss nicht, dass Dein Leben wertvoll ist und dass ...«
– Mon Capitaine, die Typen von Andreani sind da.
– Ich komme sofort. Wie viele nehmen sie uns heute Abend?
– Zwei, mon Capitaine. Den Kabylen und das Mädchen aus Telemly.
Die Gefangenen des Capitaine bleiben nie lange. Nach wenigen Tagen oder auch nur Stunden machen sie denjenigen Platz, die ankommen. Man führt sie fort. Sie werden in ein Durchgangslager gefahren. Oder vor den Staatsanwalt gebracht. Oder Lieutenant Andreani übergeben. Capitaine Degorce kennt die Regeln nicht, die der Selektion vorangehen. Möglich, dass es gar keine Regel gibt. Die Gefangenen sind so zahlreich, dass es unmöglich ist, ihre Fälle einzeln zu behandeln. Möglich, dass es das Werk eines blinden Mechanismus ist, zufällig und endgültig wie das Schicksal. Ein zugedeckter Laster ist in der menschenleeren Straße geparkt. Es ist eiskalt und der abnehmende Mond hat im leichten Dunst einen strahlenden Hof. Andreanis Männer plaudern mit Adjudant-Chef Moreau. Capitaine Degorce erkennt Belkacem wieder, den Harki, wie auch den jungen Seminaristen mit dem Marderkopf, der dem Lieutenant als Sekretär dient. Sie salutieren dem Capitaine, der ihnen mit einer vagen Kopfbewegung antwortet. Man bringt Abdelkrim und das Mädchen. Belkacem heißt sie, in den hinteren Teil des Lasters hochzusteigen. Abdelkrim zittert, seine Augen sind gesenkt. Das Mädchen betrachtet den Capitaine mit einem undurchdringlichen Gesichtsausdruck. Der Laster verschwindet in die Nacht.
– Und bei Andreani, mon Capitaine, fragt der Adjudant-Chef, glauben Sie, dass sie da was zu lachen hat, die Kleine?
– Keine Ahnung, Moreau, und die Frage stellt sich auch nicht. Das, was bei Andreani passiert, ich kann da nichts dagegen tun.
*
»André, vergiss nicht, dass Dein Leben wertvoll ist und dass wir Dich über alles lieben. Setze Dich keiner unnötigen Gefahr aus. Denke an mich. Denke an uns. Und, bitte, sieh darin keinerlei Vorwurf, aber versuche uns doch, wenn Du die Zeit dazu findest, etwas längere und ausführlichere Briefe zu schreiben. Nichts von dem, was Du tust, könnte uns je langweilen und die Kinder, vor allem sie, sie wünschen sich, dass ...«
Der Capitaine kann sich nicht mehr auf seine Lektüre konzentrieren. Er ist nicht mehr bewegt. Der Sinn der Worte dringt nur schwer zu seinem Geist vor und so gibt er schließlich auf. Er ordnet den Brief in eine Schublade, gemeinsam mit demjenigen seiner Eltern, und wirft den von Marcel in den Papierkorb. Es scheint ihm, als würde er, legte er sich jetzt hin, schlafen können, aber er weiß, dass dies nur ein irriges Gefühl ist. Er nimmt Papier und beginnt zu
Weitere Kostenlose Bücher