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Und meine Seele ließ ich zurueck

Und meine Seele ließ ich zurueck

Titel: Und meine Seele ließ ich zurueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari
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Ihnen die Geliebten des Colonel de Castries anzubieten haben, Béatrice, Isabelle, Anne-Marie, Gabrielle, Claudine, Eliane und all jene Frauen, die die Erinnerung unseres Befehlshabers so unerbittlich immer wieder heimsuchten, dass er die Stellungen, in denen wir sterben sollten, mit deren Vornamen bezeichnet hatte, und was hätten sie wohl gedacht, mon Capitaine, was hätten all jene Frauen, deren Gesichter uns für immer unbekannt bleiben werden, wohl gedacht, hätten sie ihren gealterten Liebhaber seine große Aristokratennase und gebeugte Silhouette durch dieses Gefilz stinkender Schützengräben spazieren führen sehen, mitten in seiner Armee von Untoten? Wie denn hätten sie ihn wiedererkennen können, der ihnen heimliche Rendez-vous schenkte in erleuchteten Zimmern mit weit auf den Pariser Frühling geöffneten Fenstern und auf so kühne Manier die scharlachrote Weste seiner Kavalleristenuniform an ihren nackten Brüsten rieb? Ich habe so häufig an sie gedacht, mon Capitaine, unter dem nicht endenden Feuer stellte ich mir ihre nach Parfum duftenden Körper ausgestreckt unter der Wärme der Betttücher vor, die Liebkosung ihrer Hände, und ich spürte, dass die Erde, die uns verschlang, etwas von ihnen bewahrt hatte, der Schlamm, handwarm wie ihr Arm, er wiegte die Sterbenden zart ein, bevor er sie in die lustvollen Tiefen zog, wo sie nichts mehr treffen konnte, es war von daher so einfach, zu kämpfen, so verführerisch, zu sterben, und ich verstehe nicht, wie ich nur vergessen konnte, welchen weiblichen Vornamen die Stellung trug, die ich Tag und Nacht verteidigte an Ihrer Seite, lautete er Eliane, mon Capitaine?, lautete er Huguette?, lautete er Dominique? Ich erinnere mich nicht mehr, ich, der ich mich an alles erinnere, ich habe ihn vergessen, mon Capitaine, wie ich auch den Vornamen vergessen habe der frisch verheirateten Algerierin, erdrosselt Jahre später am Wegesrand einer langen Wüstenstraße zwischen Bechar und Taghit, mein Erinnerungsvermögen weigert sich, Vornamen von Frauen zu erinnern, so ist es, mon Capitaine, so sehr ich auch an sie denken mag, ihre Vornamen verblassen und ich weiß nicht mehr, ob sie Kathina, Latifa oder Wissam hießen, aber ich weiß, dass Männer, die Ihrem Tahar wie Brüder glichen, sie getötet hatten, und sie hatten ihre Aussteuer in den Staub verstreut, furchtbare vergoldete Schuhe mit hohen Absätzen, synthetische Dessous mit falschen Perlen, mit kreischenden Farben bestickte Kleider, das ganze überladene Silberzeugs, das in der Tiefe einer Schublade der ehelichen Behausung hätte schwarz werden sollen und das der Wüstenwind nun mit Sand bedeckte. Ich habe ihren Namen in der Zeitung gelesen, als ich meinen Whisky trank unterm Jasmin vom Saint-George, wie damals in meiner erbarmungslosen Jugend, bevor ich dann den Taxifahrer rief, damit er mich ins Haus der Familie fahren würde, die ich mir erfunden hatte, ich habe ihren Namen gelesen, mon Capitaine, und mir dabei geschworen, ihn niemals zu vergessen, und ich erinnere mich seiner nicht mehr. Sie war nicht mehr ganz jung gewesen, daran ja, daran erinnere ich mich noch sehr gut, sie war etwas über dreißig und sie hat wohl, wie sie so dasaß neben ihrem in einen völlig neuen Anzug gezwängten Mann, verschwitzt unter ihrer Schminke, während alle Hochzeitsgäste im Rhythmus mit den Händen klatschten und sangen Ich könnte für Dich sterben, Sara, Du bist mein Leben, Sara, leicht errötend, denn sie wird wohl daran gedacht haben, dass ihr Blut endlich aus ihr fließen werde, aber nicht einfach so, mon Capitaine, nicht, wie es dann an jenem Abend verlief, zwischen Taghit und Bechar, auf dieser Straße, die wir so gut kennen. Die Welt ist alt, mon Capitaine, und wir werden der Schändung des Blutes nicht entkommen, wir werden ihrer nicht enthoben werden, niemals, das ist unser Fluch und unsere Größe, es tut mir leid, es Ihnen wiederholen zu müssen, ich, der ich es vielleicht mit der entscheidenden Nacht meiner jungen sechzehn Jahre verstanden habe, in deren Verlauf mir ein für alle Mal vor Augen geführt wurde, was mein Leben sein würde. Es war Ende Herbst 1942, mon Capitaine, ich erinnere es sehr genau, mein Cousin und ich erwischten einen italienischen Soldaten, wie er um das elende Gehege, in welchem meine Mutter drei mickrige Hühner aufzog, herumschlich, er war kaum älter als wir und zitterte vor Angst, er hatte Hunger, mon Capitaine, wir aber waren so empört darüber, dass man uns das wenige, was wir

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