Und morgen seid ihr tot
nicht, warum mir meine Geschwister nie in den Sinn kamen. Es ist, als hätte mein Gehirn immerfort SOS -Rufe abgegeben, aber ausschließlich in Richtung meiner Eltern. Erst viele Tage später, als unsere Situation sich stabilisiert hat, werden mich auch andere Erinnerungen und Gedanken heimsuchen. Dann erst werden meine Geschwister vor meinem inneren Auge erscheinen, obwohl ich zu ihnen ein genauso enges Verhältnis zu haben glaubte wie zu meinen Eltern. Während der Entführung werden wir immer wieder feststellen, wie selektiv unsere Psyche arbeitet. Immer nur auf ein Ziel ausgerichtet: überleben. Grundfunktionen von Körper und Geist sicherstellen, die Hoffnung aufrechterhalten, nach Auswegen oder Hilfe suchen. Instinktiv scheine ich diese Hilfe nicht mit meinen Geschwistern, sondern mit meinen Eltern zu assoziieren.
Ich weiß nicht, dass mein Vater schon auf der Bank war und dass meine Geschwister ein Dokument unterschrieben haben, mit dem sie auf ihr Erbe verzichten, damit eine möglichst hohe Summe für ein etwaiges Lösegeld zusammenkommt.
Einmal dürfen wir tagsüber kurz die enge Hütte verlassen, auf einem Stein sitzen, umringt von den bewaffneten Männern. Aber sobald eine Herde am Horizont auftaucht, müssen wir uns hinlegen und werden mit Tüchern bedeckt. Beeindruckende Bilder prägen sich uns ein: Hirten, die mit dieser unwirtlichen Landschaft in Symbiose zu leben scheinen. Reiter mit farbigen Turbanen, die langsam und majestätisch durch die endlose Weite kommen und plötzlich vor unseren Hütten stehen.
Unsere Bewacher sind nervös und ängstlich. Sie meinen, seitdem die Meldung über den Rundfunk verbreitet wurde, suche die Armee mit Bodeneinheiten und Flugzeugen nach uns.
Die Zeit in der Hütte dehnt sich unerträglich, manchmal führen wir rudimentäre Gespräche mit den Entführern. Krustenfuß verspricht uns immer wieder »Doppelbett, Internet, Telefon, Haus«. An dieser unrealistischen Hoffnung halten wir uns fest.
Wenn wir bei Einbruch der Dämmerung endlich ins Freie dürfen, setzen die Kämpfer sich in ein Geviert, in dem wir gehen und Liegestütze machen. Vom ersten Augenblick an kämpfen wir gegen Verzagtheit und Resignation. Wir machen Dehn- und Kraftübungen, und ich versuche, auf den paar Quadratmetern, die uns als Raum gelassen werden, zu traben.
Wir erfahren, dass wir in drei Wochen wieder zu Hause in der Schweiz sein werden. Wir rechnen, in drei Wochen ist der 22. Juli, es kommt uns wie eine unvorstellbar lange Zeit vor, aber das hieße auch, dass wir wenigstens am Nationalfeiertag wieder daheim sein würden. Sobald wir das Haus erreicht hätten, begönnen die Verhandlungen. Wenn das Geld da sei, dürften wir gehen. Es klingt einleuchtend und beruhigend. Wir sind Geiseln, wir sind ihr Kapital. Sie werden gut auf uns achtgeben. Solange wir nicht aufbegehren.
Wie sind wir nur in diese Situation geraten?, frage ich mich immer wieder. Trotz Polizeischutz, trotz unserer Vorsichtsmaßnahmen.
Ich denke an Mister Faruk, den Polizeicommander, bei dem wir den letzten Abend in Freiheit verbracht haben. Ein komischer Abend, der ein ungutes Gefühl bei mir hinterlassen hat. Mister Faruk war zudringlich und legte die westlichen Umgangsformen auf eine anzügliche Art aus. Nachdem er uns festlich bewirtet hatte, wollte er mit uns tanzen und sogar ein erotisches Video drehen. Stolz, unser Gastgeber zu sein, rief er seine Freunde an und gab das Handy an uns weiter, damit wir mit diesen Freunden redeten. Ich wollte nicht, sagte nur »Hallo« und gab Mister Faruk sein Handy zurück. Seine prahlerische Art, die Grobheit, mit der er seinen Diener behandelte, erfüllte das ganze Haus mit einer negativen Aura, sodass ich mich anfangs weigerte, bei Mister Faruk zu übernachten. Aber die Gastfreundschaft ist allen Pakistani heilig. Ein solcher Affront wäre kaum zu verzeihen gewesen. Und so brachte David mich zur Vernunft.
Unsere Entführer kennen Mister Faruk angeblich nicht. Sie hätten in Loralai auf ein anderes Opfer gewartet, das aber nicht gekommen sei. Da sie nicht mit leeren Händen zurückkehren wollten, hätten sie mit Entzücken die Eskorte und unseren Bus wahrgenommen. In ausladenden Gesten machen sie uns klar, was für einen exzellenten Fang wir darstellen. Ihr Entschluss, uns zu entführen, habe augenblicklich festgestanden. Eskorte hin oder her.
Wir zweifeln nicht an Junkies Worten. Acht Jahre hat er an der Front gekämpft, bei der Entführung eines britischen Ingenieurs soll er
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