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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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ist von der Wahrheit gar nicht so weit entfernt. Liv und Fynn, die Kinder unserer Freunde, sind für mich fast wie eigene Kinder.
    Ob wir verheiratet seien.
    Wir nicken, denn wir wissen, dass für Muslime eine »wilde Ehe« eine Todsünde ist.
    Geißenpeter grinst und zieht Davids Polizeiausweis hervor. David und ich blicken einander verstohlen an. Also haben sie die Papiere doch zu deuten gewusst. Aber die Männer scheinen die Lüge nicht übel zu nehmen. Sie wirken jetzt ganz zugänglich. Sie sprechen Paschtu. Und für die Paschtunen ist die Gastfreundschaft das wichtigste Gebot. Selbst Feinden gegenüber. Später, gegen Abend, wird Junkie uns sogar Zahnpasta und eine Zahnbürste geben. Er hat einen Rucksack dabei, in dem alles ist, was man für die Entführung westlicher Touristen braucht: Psychopharmaka, Zahnbürsten, Körpercreme und Zahnpasta. Unsere Bewacher haben dagegen nur ein kleines Holzstück für die Mundhygiene. Was uns wie ein Symbol für Unwissenheit und Armut vorkommt, ist in Wahrheit Teil einer jahrhundertealten Tradition. »Miswak« heißt die Pflanze, deren Zweige oder Wurzelstücke zerkaut werden, um dann mit dem ausgefransten Teil als Zahnbürste, Zungenschaber und Massagestab eingesetzt zu werden. Das Holz enthält Fluoride und fungiert somit zugleich als Zahnpasta. Und tatsächlich haben unsere Entführer, obwohl sie die meiste Zeit Kautabak im Mund haben und reichlich schwarzen Tee trinken, blendend weiße Zähne.
    Wir sind Gäste, und wir sind Gefangene. Während die Männer ständig ein- und ausgehen, sich unterhalten, zum Waschen an einen nahe gelegenen Bach marschieren, sich zum Beten versammeln, müssen wir den ganzen Tag in der Hütte bleiben. Wir dösen, spielen UNO , manchmal spielt sogar einer der Männer mit, obwohl den strenggläubigen Muslimen das Kartenspielen verboten ist.
    Um vierzehn Uhr, die Männer haben gerade ihr Gebet verrichtet, kommen im Radio Nachrichten. Das Gerät trägt immer Rotchäppli, der die Frequenz einstellt und den Ton lauter stellt. Alle Männer sitzen bei uns im Stall, die Waffen neben sich. Wir verstehen die Meldungen nicht, bis auf die Worte »Schweizer« und »Loralai«. Nun ist es also öffentlich. Wir sind verschleppt worden. Nun wissen es auch unsere Eltern. Tränen laufen mir über die Wangen. Ich kann noch immer nicht glauben, dass die zweimonatige Reise schlagartig diese grausame Wendung genommen hat.
    Wir schauen einander an, dann die Männer. Was bedeutet die Nachricht für sie? Dass sie noch vorsichtiger sein müssen? Dass nach uns gesucht wird?
    Als die Dämmerung einsetzt, müssen wir uns wieder in Marsch setzen. Und dies wird nun tagelang so gehen: im Dunkeln marschieren, tagsüber in einem Versteck ausharren.
    Allerdings herrscht an diesem Abend kein Wetter zum Marschieren. Es wetterleuchtet, Donnergrollen kommt näher, und dann setzt ein so heftiges Gewitter ein, als würden sich die Hitze dieses Wüstensommers und all die Feuchtigkeit, die eine unbarmherzige Sonne dem Boden entzogen hat, mit einem Mal über unseren Köpfen entladen. Das Wasser prasselt auf uns nieder, innerhalb weniger Minuten sind alle Kleiderschichten durchweicht, die Steine glitschig, der Regen sammelt sich zu Sturzbächen. Die Blitze erleuchten die Geröllhänge, die wir erklimmen, der Pfad verwandelt sich in einen Bach. Das Wasser schießt ins Tal, reißt Sand und Schutt mit sich, schlägt die Steine gegen unsere Schienbeine, holt uns von den Füßen. »Stell dir einen Bergmarathon vor!«, ruft David. Genau das hatte ich getan. Auf der Suche nach dem tranceartigen Zustand, in dem man nur noch die monotone Anstrengung der Muskeln wahrnimmt, Kontraktion und Entspannung, Kontraktion und Entspannung, dazu das Pumpen der Lungen und des Herzmuskels, das Gehirn, das in einen Zustand angenehmer Untätigkeit verfällt. Ich bin schon viele Halbmarathons gelaufen, aber dieser Marsch, in den zu weiten Sandalen, in denen ich haltlos umherrutsche, auf schmerzenden Blasen, umringt von Granaten und Gewehrläufen, ist mit keinem meiner Läufe zu vergleichen. Ich werde nicht in einer halben Stunde unter einer heißen Dusche stehen und mich abfrottieren. Eine merkwürdige Lähmung hat mich befallen, und jeder einzelne Schritt bringt mich auch an die Grenze der mentalen Erschöpfung.
    Mit traumwandlerischer Sicherheit springt der Hirte über lockeres Gestein, über Gräben und Dornen.
    Stunden später haben wir endlich die Hütte erreicht. Wir sitzen in dem feuchten, fensterlosen Raum,

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