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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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merkwürdiges Gefühl. Seit Wochen warte ich auf nichts anderes als auf diesen Moment: den Innenhof verlassen, hinaustreten zu können in den freien Raum. Aber ich spüre keinen Rausch, nicht einmal ein Gefühl der Befreiung, die Angst hat mich im Griff, und entsprechend schwer fällt mir das Gehen.
    Jenseits der Straße ist die Senke, in der die Frauen gewöhnlich ihr Geschäft verrichten. Manchmal auch nachts. Ich lausche, kein Laut kommt aus jener Richtung. Ich gehe an der Außenmauer entlang, während David hinter mir leise die Tür zu schließen versucht. Wieder quietschten und ächzen die Eisenteile, doch dann ist endlich Ruhe. Ich gehe und warte darauf, dass David zu mir aufschließt.
    Plötzlich ein Knall, gefolgt von zwei, drei leiseren Schlägen. Was ist geschehen? Das Geräusch hat ein Echo in den Innenhof geworfen und sich in großen, sanften Wellen über die Straße und die Hügel ausgebreitet. Die Stille, die auf die Schläge folgt, ist noch gespenstischer. Ausgeschlossen, dass die Familie nicht wach geworden ist. Und tatsächlich höre ich hinter mir schnelle Schritte, Sohlen, die auf der Schotterpiste aufschlagen. »Daniela, lauf!« Davids Stimme überschlägt sich fast. Er versucht zu schreien und gleichzeitig zu flüstern. Wir wollten nicht sprechen, aber jetzt treibt er mich an, zerrt mich am Arm. Woher kam dieser Knall? Ich habe nicht die Zeit und den Mut, mich umzudrehen. Ich glaube, förmlich spüren zu können, wie Dumbos massiger Körper die Schlaftrunkenheit abgeschüttelt hat und sich gegen die große Niederlage stemmt, nämlich sein wertvolles Pfand verloren zu haben.
    Später werde ich erfahren, dass sich der kleine, quietschende Schieber, mit dem man die Tür von außen blockieren kann, wieder geöffnet hat. David schließt ihn, die Tür öffnet sich langsam wieder, David fängt die Tür ab, blockiert sie erneut. Er hat jetzt keine Sicht mehr auf Dumbos Zimmertür, weiß nicht, ob dieser schon aufgeschreckt ist, er weiß nur, er muss jetzt gehen. Als er aufsteht, sieht er, wie sich der Schieber langsam wieder löst und die Tür sich öffnet. Aber er sieht nur diese sanfte Bewegung, kann sich den Knall nicht vorstellen, mit dem das metallene Türblatt auf die Mauer schlagen wird.
    Ich übergebe David einen Sack, den er sich schnell über die Schulter wirft, und dann rennen wir los, außen an der Sandmauer unseres Hofes entlang. Wir erreichen den Fuß eines steilen Geröllhangs, den wir auf allen vieren hinaufklettern. Von der Anhöhe aus können wir überlegen, in welcher Richtung wir unsere Verfolger am besten abschütteln können. Wir hatten uns zusammengereimt, dass hinter dem Hügel ein weiterer kommt, auf dem das pakistanische Militär stationiert ist. Aber zuerst einmal müssen wir uns vor den Taliban in Sicherheit bringen.
    Dumbo, der tumbe Fettwanst, der nur für sein Essen zu leben scheint, und den niemand so recht ernst nehmen will – was geht jetzt in seinem Kopf vor? Was hat er getan? Sein Funkgerät hat nicht genug Reichweite, um Miranshah zu kontaktieren. Funkt er jetzt einen Zwischenposten an? Wirft er sein Moped an und fährt auf den Felgen davon? Wankt er zu Fuß los?
    Ist es denkbar, dass er den Knall nicht gehört hat? Dass er ihn gehört hat, wach geworden ist und sich in seiner unendlichen Bequemlichkeit einfach wieder umgedreht hat?
    Dann fallen mir wieder die Szenen ein, als dieser behäbige Mann plötzlich in Rage geriet, einen Ziegelstein nahm und versuchte, Chobana den Schädel einzuschlagen, der seine Pistole holte und auf sie anlegte. Und wenn er den Pfad hochgeschnaubt kommt und zu schießen anfängt? Würden wir es fertigbringen, eine Handgranate auf ihn zu schleudern? David ist sich sicher, dass er dies tun würde, mich dagegen haben selbst die Schüsse in die Luft vor acht Monaten in eine Schockstarre versetzt.
    Ich komme nur ganz langsam vorwärts. Gerade jetzt, wo ich all meine Ausdauer und Geländetauglichkeit bräuchte, verlassen mich die Kräfte. Der Abstand zu David wird immer größer.
    Erst später werde ich von ihm erfahren, dass er die folgende Situation ganz anders erlebt hat als ich. Er hat einen Baum am Gipfel erreicht, hinter dem er sich versteckt. Er wartet. Eine meiner Gesten hat er so verstanden, dass ich noch etwas nachsehen wollte. Nachsehen – wo? Und was? Seine Gedanken spielen verrückt. Ich komme nicht. Stattdessen taucht ein Licht auf, das sich langsam den Hang hocharbeitet, auf ihn zu. Er wird panisch, als er einen dunklen Sherwani

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