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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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die Tagebücher in meinem Gepäck. Alles umsonst. Sie werden uns entdecken, sie werden uns umbringen, die Tagebücher werden hier in der Wildnis bleiben, Regen und Hitze werden das Papier auflösen, kein Wort wird je gelesen werden über das, was wir erlebt haben. Ich denke an meine Eltern, an meine Geschwister und Freunde, die rund um die Uhr aufs Telefon gestarrt, die jeden Tag aufs Neue versucht haben, etwas für unsere Befreiung zu unternehmen, der Anwalt unserer Familie, die Schweizer Task-Force, der Botschafter in Islamabad … Wir werden sie nicht kennenlernen, wir werden unsere Familien nicht wiedersehen.
    Die Musik zieht in Schwaden herauf, die Stimmen der Männer ändern ihre Tonlage nicht, das Auto rollt unter mir vorbei.
    Ich versuche so schnell wie möglich zu David zu kommen, der sich erhoben und den Sack über die Schulter geworfen hat. »Komm schon«, raunt er mir zu, und dann arbeitet er sich wieder auf allen vieren den Hang hoch. Er rennt, stürzt, rappelt sich auf, krabbelt ein Stück und rennt wieder, während erneut Scheinwerfer auftauchen. Wir haben den Verlauf der Schotterpiste im Kopf und versuchen, möglichst viel Abstand zu gewinnen. Wieder ein Auto mit Warnblinklicht, wieder ein Taliban-Wagen. Keine Musik diesmal, keine offenen Seitenfenster. Die Scheinwerfer nehmen uns nicht ins Visier.
    Wir gelangen auf den Scheitelpunkt des Hügels und finden eine Mulde, in die wir uns setzen, um zu verschnaufen.
    Die Dieselmotoren brummen im Tal, über uns surren die Drohnen. Selbst wenn die Taliban uns mit ihren Fahrzeugen suchen – hier sind wir sicher.
    Nach dem Gesetz der Taliban ist jeglicher Genuss von Tabak (außer Kep) verboten, überhaupt jeder Genuss, nehmen wir an. Solange ihre Frauen sexuell attraktiv wirken können, dürfen diese nicht einmal den Innenhof verlassen, außer um ein Geschäft in eine der Gruben unter freiem Himmel zu verrichten. Aber wir sind nicht die Einzigen, die Dumbos Regime ausgehebelt haben. Bei der Suche nach Material und Geld haben wir in Chobanas Sachen Zigaretten gefunden, gut versteckt in ihrer Wäsche. Raucht Chobana heimlich? David nimmt die Zigaretten, die er zur Tarnung gestohlen hat. Er will zu Ehren dieser Stunde, des Moments der Freiheit, und auch in Erinnerung an Chobana, eine heimliche Mitstreiterin, die gegen ihren gefühllosen Ehemann und den ganzen Regelkodex der Taliban rebelliert, eine rauchen. Er zündet ein Streichholz an, schirmt die Flamme gegen den lauen Wind und als Sichtschutz ab und hält die Spitze hinein. Er zieht den Rauch tief in die Lungen, schließt die Augen. Sein Brustkorb pumpt, sein Herz schlägt. »Willst du einen Zug?«, fragt er, obwohl er weiß, dass ich niemals rauche. Ich schüttle den Kopf und schließe ebenfalls für einen Moment die Augen. Ich denke ebenfalls an Chobana. In Gefangenschaft hatte ich mir immer wieder vorgenommen, später etwas für sie und die anderen Frauen in Waziristan zu tun. Aber was? Durch meine Flucht habe ich sie wahrscheinlich eher in Gefahr gebracht. Wir haben starken Kaffee getrunken, unser Adrenalinspiegel könnte kaum höher sein, und doch fühle ich mich schwer und träge wie ein Stück Beton. Ich sehe Dumbo vor mir, der hektisch in sein Funkgerät spricht, die Pick-ups, die ausschwärmen, auf den Ladeflächen bewaffnete Taliban. So beschränkt Dumbo ist – er muss wissen, dass er unsere Flucht nicht verheimlichen kann.
    Unter das Surren der Drohnen mischt sich ein anderes Motorengeräusch. Kein Diesel, kein Auto, die Drehzahl ist hoch, ein Motorrad scheint durch die Landschaft zu rasen. David tritt die Zigarette aus und schiebt den Kopf aus der Mulde.
    »Daniela«, flüstert er. Ich reagiere nicht. Ich will nur schlafen, ich will mich nicht bewegen. »Daniela, jetzt schau doch mal!«
    Ich erhebe mich und lege mich neben David auf den Bauch. In etwa fünfhundert Metern Entfernung sieht man einen einzelnen Scheinwerfer. Er zittert und tanzt, während der Motor mal mit hoher, dann wieder niedriger Drehzahl jault. David beobachtet ihn, ohne große Regung. Merkt er denn nicht, was dieser Scheinwerfer bedeutet? Mein Herzschlag beschleunigt sich. Das könnte das Flussbett sein, das als Straße genutzt wird. Also haben wir die Orientierung wieder, wir sind auf dem richtigen Weg!
    »Weißt du, was das bedeutet?«, frage ich David.
    Er überlegt einen Moment, dann fasst er mich am Arm, versucht mich hochzuziehen: »Ja, ja, du hast recht, Daniela! Wenn dort das Flussbett liegt, dann ist die Teerstraße

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