Sommer in Ephesos
I
Manchmal, zwischen Schlafen und Wachen, sehe ich die weiße Stadt. Manchmal gehe ich, im Traum, die Marmorstraße entlang, die Kuretenstraße, die Arkadiane. Die Malven schaukeln im Wind, die Zikaden schrillen in den Hanghäusern, und die aufgehende Sonne taucht die Kapitelle und Säulen der Bibliothek in rosiges Gold. Ich gehe durch die leere Stadt, als gehörte ich hierher, ich weiß es wieder, dass ich hierher gehöre, immer habe ich es gewusst, und einmal, da war ich siebzehn, einen Sommer lang, gehörte die Stadt mir.
Dass mein Vater gestorben war, erfuhr ich während einer Besprechung. Ich hatte mein Handy auf Empfang gestellt, ich erwartete einen Anruf, es hatte Probleme mit Materiallieferungen gegeben, am Display sah ich, dass Eva anrief, meine Mutter, es war 15 Uhr 47. Ich kann jetzt nicht, sagte ich, dein Vater ist tot, etwas rauschte in meinen Ohren, ich ruf dich zurück, sagte ich und unterbrach die Verbindung. Ich klärte die Sache mit den verschollenen Lieferungen, ich vereinbarte Termine für Objektbegehungen in den nächsten Tagen, ich diskutierte das neue Projekt, Bürotürme aus Stahl und Glas, in meinen Ohren rauschte es wie von Flügeln.
Erst am Abend fand ich den Mut, Eva anzurufen. Ich bin in L. A., sagte sie, ich weiß nicht, ob ich kommen kann, du kümmerst dich doch darum.
Worum, fragte ich, das Begräbnis, sagte sie ungeduldig, wer soll es sonst machen, da ist sonst keiner, das weißt du.
Ich wusste es nicht, woher hätte ich es wissen sollen, was wusste ich von meinem Vater, ich hatte ihn seit dreizehn Jahren nicht mehr gesehen, seit dreizehn Jahren nichts von ihm gehört. Hin und wieder hatte meine Mutter, aber was wusste sie von seinem Leben oder von meinem, hatte Eva etwas erzählt, am Telefon, oder wenn wir einander kurz sahen, wenn sie in Wien war. Jahre nach der Scheidung, die Mutter war da schon lange in Amerika, hatte der Vater sie manchmal angerufen, das erzählte sie mir dann, dass er daran dachte, das Haus zu verkaufen, ist dir das gleichgültig, fragte sie mich, es ist sein Haus, sagte ich. Dass er auf Kur gewesen war, dein Vater auf Kur, sagte sie und sie schüttelte den Kopf, er wird alt, sagte sie, und es klang, als hätte sie das nicht von ihm erwartet, nicht von meinem Vater, der doch fünfundzwanzig Jahre älter war als sie. Dass er sie, aus heiterem Himmel mitten in der Nacht, wie soll das gehen, Eva, hätte mein Vater gesagt, aus heiterem Himmel mitten in der Nacht, er hatte sie angerufen, die Mutter hatte geflucht, ruf morgen an, und aufgelegt. Was wollte er wissen, fragte ich, er hat sich nicht mehr gemeldet, sagte die Mutter.
Dass er ein Buch publiziert hatte, erzählte mir die Mutter, es war sein letztes gewesen, ich hatte die Rezensionen gelesen. Es war zurückhaltend besprochen worden, man hatte etwas anderes erwartet, etwas Größeres, ein Alterswerk, das alles Bisherige zusammenfassen und übertreffen sollte. Die Fachwelt, so hieß es in den Besprechungen, die ich mit Beklemmung las, die Fachwelt wartete seit Jahren auf dieses Werk, es war aber nur ein schmales Bändchen geworden, meine Schuld, dass es kein Alterswerk gab, nur ein schmales Bändchen, Inschriften in Carnuntum.
Was geht es mich an, sage ich zu Friedrich. Wieso soll ich das machen, sein Begräbnis planen, sage ich, eine Feier für ihn ausrichten, was geht es mich an, für mich ist er vor langer Zeit gestorben, und ich für ihn.
Friedrich zieht die Augenbrauen hoch. Wir sitzen in einer Pizzeria in der Nähe meines Büros, mein Vater ist tot, sagte ich, als ich ihn in der Früh angerufen habe, warum, mein Vater ist tot, der Satz fiel in einen hohlen Raum, sodass ich nicht hörte, was Friedrich sagte. Ich legte auf, aber zu Mittag stand Friedrich im Büro, mir ist übel von den Gerüchen nach warmem Teig und Knoblauch, und Friedrich zieht die Augenbrauen hoch. Gleich wird er sagen, er ist dein Vater, wenn er das sagt, denke ich, er ist dein Vater, er sagt aber, wenn es dich nichts angeht.
Eben, sage ich und verstumme, und ich weiß, ich werde es tun müssen. Friedrich mustert mich, seine klaren hellen Augen, ich zwinge mich, nicht zu weinen, warum sollte ich weinen.
Anastasia, sagt Friedrich, und ich verschließe mich vor seinen Augen, er sieht mich an, ich schüttle den Kopf.
Anastasia. Was für ein schrecklicher Name. A-na-stasi-a. Fünf Vokale, und mein Vater musste auch noch das I betonen, Anastasía. Warum, habe ich ihn einmal gefragt, warum habt ihr mir diesen Namen gegeben, warum
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