Und Nachts die Angst
anrechnen, dessen bin ich mir sicher. Ich sage es den Cavanaughs. Soll ich Ihnen die Telefonnummer geben, damit Sie sie anrufen können?«
»Nein, ich würde sie lieber sofort besuchen. Und ich möchte mit Tilly reden. Könnten Sie mich abholen?«
»Oh, na ja, ich … ich weiß nicht, wann ich nach San Francisco zurückfliege.«
»Ich bin hier in der Stadt.«
»Wie bitte?«
»Ich bin in Jefferson City.«
»Sie sind hier?«
»Wie ich schon sagte.«
»Aber wie sind Sie denn hergekommen?«
»Mit dem Auto. Mein Vater hat mir den Jeep geliehen.«
»Sie sind gefahren? «
»Ja. Bin ich.« Dass Dr. Lerner überrascht sein würde, hat Reeve erwartet, denn er weiß, dass sie in ihrem ganzen Leben vielleicht zehn-, elfmal selbst gefahren ist, aber langsam geht ihr die Fragerei auf die Nerven. »Ich habe Gas gegeben, geschaltet und irgendwann wieder angehalten. Jetzt sitze ich in der Stadt bei Starbucks, kenne mich hier aber nicht aus und weiß auch nicht, wo Sie sind. Daher wäre ich froh, wenn Sie kämen und mich abholten.«
»Okay. Ich bin in ein paar Minuten da.«
Vor allem ist sie vollkommen erschöpft. Sie hat nicht gut geschlafen, und die Fahrt von San Francisco hierher war ein einziger Alptraum, im Nebel und dichten Verkehr und mit verkrampften Händen. Sie hat Dr. Lerner mit Absicht nicht vorgewarnt, dass sie käme, um es sich ohne große Erklärungen jederzeit anders überlegen zu können. Aber so gerne sie auch einen Rückzieher gemacht hätte, hat sie sich zusammengerissen. Weil sie nach all den Jahren Therapie durchaus erkennt, dass sie kaum das Aushängeschild für geistige Gesundheit ist. Und weil sie es satthat, Daryl Wayne Flints dreckige Finger noch immer auf sich zu spüren – weil sie es satthat, immer wieder in derselben Sackgasse zu landen.
Und weil Tilly Cavanaugh mindestens so viel Hilfe bekommen soll wie sie damals.
Sie hat ihre Schokolade gerade ausgetrunken, als Dr. Lerner mit einem großen jungen Mann in Uniform im Schlepptau durch die Tür kommt. Sie schaut auf, grüßt knapp und versucht, sich ihre Verwirrung nicht anmerken zu lassen.
»Reeve, das ist Deputy Nick Hudson«, sagt Dr. Lerner. »Er ist unser Verbindungsmann zur Bezirksstaatsanwaltschaft und dem County Sheriff.«
»Was in höflichen Worten nur meint, dass ich für den guten Doc hier das Mädchen für alles mache, solange er in der Stadt ist«, fügt Hudson hinzu und tritt vor, um ihr die Hand zu schütteln.
Reeve betrachtet den großen Burschen und fragt sich – wie meistens, wenn sie jemanden kennenlernt –, ob er über sie Bescheid weiß.
»Wir hatten gerade vor, etwas zu Mittag zu essen«, sagt Dr. Lerner. »Haben Sie auch Lust?«
Einige Minuten später sitzen sie in einem Restaurant im Holzfällerlook, studieren die Karte und machen Small Talk, bis man ihnen das köstlich duftende Essen auf übergroßen Tellern bringt. Reeve probiert ihre Suppe und knabbert an einer Sandwichhälfte. Sie ist es gewohnt, Dr. Lerners volle Aufmerksamkeit für sich zu haben, und dass sie sie jetzt teilen muss, ärgert sie irgendwie.
Während des Essens weicht sie Fragen aus und lauscht stattdessen dem Austausch zwischen Dr. Lerner und diesem jungen Deputy. Hudson scheint die Kunst der lockeren Plauderei mühelos zu beherrschen. Er erzählt bereitwillig, dass er hier aufgewachsen ist und in Los Angeles studiert hat, das Gedränge dort aber nicht ausstehen konnte und zurückgekehrt ist. Er spiele »ein bisschen Gitarre, nur in meiner Freizeit, wissen Sie«, und gerät regelrecht ins Schwärmen, als er über die vielen Freizeitmöglichkeiten von Jefferson County zu reden beginnt – Ski- und Kajakfahren, Fliegenfischen und ein ganzer Katalog an anderen Outdoor-Sportarten, die ihr genauso abwegig erscheinen wie eine Expedition ins All.
»Und was hat Sie zur Polizei gebracht?«, fragt Dr. Lerner und spießt ein Stück Forelle auf.
»Scheint bei uns so eine Art Familientradition zu sein. Mein Vater war bei der Highway Patrol. Und ich habe einen Haufen Onkels und Cousinen und Cousins, die auf die eine oder andere Art im Dienst des Gesetzes stehen.«
»Das klingt, als hätten Sie eine ungewöhnliche Familie.«
»Dachte ich früher auch mal, aber viele meiner Kollegen stammen aus ähnlichen Verhältnissen. Wahrscheinlich ist es ansteckend.«
»Sie mögen Ihren Job, oder?«
»Was ich mache, ist interessant, und man verdient weitaus besser, als wenn man mit der Gitarre durch die Clubs zieht, das können Sie mir glauben.« Hudson
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