Und Nachts die Angst
und seitdem hat man bei vielen Personen, die gewaltsam festgehalten wurden, ähnliche Reaktionen beobachtet. Flugzeugentführungen, Gefängnisaufstände, Kriegsgefangenschaft …«
»Aber ich dachte, das Stockholm-Syndrom hat damit zu tun, dass die Geiseln sich in ihre Geiselnehmer verlieben«, sagt Hudson.
Reeve stöhnt auf. »Das ist ein Überlebensmechanismus.«
Dr. Lerner nickt. »Und kratzt tatsächlich nur an der Oberfläche, wenn man die psychologischen Folgen von längerer Freiheitsberaubung und massiver Nötigung erklären will.«
»Nötigung?«, fragt Hudson, und seine Gabel mit dem Kuchen hält auf halbem Weg zum Mund inne.
»Ganz genau«, faucht Reeve. »Nötigung.«
»Oder Gehirnwäsche, wie man es auch oft nennt«, sagt Dr. Lerner und macht eine abwiegelnde Geste. »Obwohl das kein medizinischer Begriff ist. Jedenfalls muss man die unterschiedlichen Umstände in Betracht ziehen. Manche Geiseln werden nur eine kurze Zeit festgehalten. Manche wissen um die laufenden Verhandlungen und erleben sich quasi als Währung, mit der gefeilscht wird. Sie sind sich bewusst, dass ihre Entführer etwas im Austausch wollen, meistens Geld.«
»Sexualstraftäter hingegen verlangen kein Lösegeld«, sagt Reeve und umklammert die Kanten der Sitzfläche. »Es gibt keine Verhandlungen. Die entführte Person ist der Preis.«
»Tut mir leid, aber könnten wir noch mal einen Schritt zurückgehen? Angst durch Gewaltandrohung ist klar, Vergewaltigung und sexueller Missbrauch verstehe ich auch.« Er spricht mit Dr. Lerner, wirft aber Reeve einen Blick zu, die ihn erwidert. »Was ich aber nicht begreife, sofern es sich nicht um militärische Situationen handelt, ist, wo die Gehirnwäsche ins Spiel kommt.«
»Erinnern Sie sich an Patty Hearst?« Reeves Stimme wird einen Hauch schrill. »Erinnern Sie sich, wie ihr die radikalen Entführer ihre Ideologie eingeimpft haben? Oder an das verquere religiöse Gefasel, das Beth Goodwins Entführer absonderte?«
Hudson reibt sich das Kinn. »Genau wie bei dem Kerl, der Jaycee Dugard entführt hat, richtig?«
»Richtig.«
»Psychische Manipulation ist bei Freiheitsberaubung üblich«, erklärt Dr. Lerner. »Es gehört zur Strategie des Kidnappers. Nehmen wir Kriegsgefangene. Die Manipulation wird verstärkt durch extreme emotionale und körperliche Entbehrungen.«
»Und Folter«, fügt Reeve hitzig hinzu. »Die Medien versuchen gerne, es wie etwas Erregendes klingen zu lassen, und nennen es Sadomasochismus. Aber Leute, die gekidnappt werden, sind keine Masochisten. Sie werden geschlagen. Müssen hungern. Und ob es sich um ausgebildete Soldaten oder junge Mädchen handelt, ob es tatsächlich eine Vergewaltigung gibt oder nicht, Folter bleibt dennoch Folter.«
Das Gespräch kommt abrupt zum Stehen.
Reeve starrt auf ihr schmelzendes Eis, entschuldigt sich, steht hastig auf und verlässt den Tisch.
In der Damentoilette wäscht sie sich das erhitzte Gesicht. Zum zweiten Mal in zwei Tagen hat sie sich von ihrem Zorn mitreißen lassen. Sie sieht sich im Spiegel an und schneidet eine Grimasse. »Tja, meine Liebe, das lief ja ganz großartig.«
Nach dem Essen dirigiert Deputy Hudson Reeve zu einem Parkhaus, in dem sie ihren Jeep den ganzen Tag umsonst stehen lassen kann – in San Francisco undenkbar –, dann fahren alle drei zu den Cavanaughs. Reeve, die seit dem Lunch kaum etwas gesagt hat, hockt auf dem Rücksitz und betrachtet die Landschaft, die an ihnen vorbeizieht. Reiß dich zusammen, ermahnt sie sich. Was soll schon passieren? Dass das Kind dich nicht leiden mag? Dass du es zum Heulen bringst?
Der Highway fällt leicht ab und führt nach Westen über eine lange Brücke. Sie betrachtet die unbekannte Gegend, den breiten Fluss, der sich wie eine blaue Ader durch die Stadt zieht. Was hat sie sich bloß gedacht? Sie ist nicht verpflichtet, hier zu sein. Sie ist schließlich kein eingetragenes Mitglied der Hilfsorganisation für Entführungsopfer.
Nick Hudson versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln, aber sie tut so, als hätte sie Mühe, ihn über das Motorengeräusch hinweg zu verstehen. Dann behauptet sie, sie würde einen Countrysong mögen, der gerade im Radio läuft, und bittet ihn, lauter zu drehen. Sie sucht nach dem tieferen Sinn in dem schwermütigen Text, während sie durch ein Wohngebiet rollen, wo rote Blätter von den Bäumen fallen und manche Dächer, Vorgärten und Veranden schon weihnachtlich dekoriert sind.
Sobald sie in die Straße einbiegen, in der die
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