Und Nachts die Angst
grinst. »Aber irgendwann will ich Jura studieren. Also habe ich mich ein bisschen umgehört, die Chance ergriffen und lerne jetzt in diesem Job bei der Staatsanwaltschaft eine Menge dazu.«
Nick Hudson ist genauso entspannt wie Dr. Lerner, und während der Nachtisch serviert wird, mustert Reeve seine gleichmäßigen Gesichtszüge, die gesunde Haut, die schönen Zähne und kommt zu dem Schluss, dass sie ihn attraktiv findet.
Dr. Lerner wendet sich an Reeve, und seine Stimme wird sanfter. »Ich bin froh, dass Sie die Initiative ergriffen haben und hergekommen sind. Die Cavanaughs freuen sich darauf, Sie heute Nachmittag kennenzulernen. Ist das okay?«
»Großartig, dass Sie helfen wollen«, fügt Hudson hinzu, womit offensichtlich wird, dass er ganz genau weiß, wer sie ist.
Sie senkt den Blick und taucht den Löffel in ihr Schokoladeneis. Dr. Lerner setzt sie über die Lage ins Bild.
»Die Eltern gehen sehr sanft mit ihrer Tochter um. Sie drängen sie nicht, über das zu sprechen, was sie durchgemacht hat, was sehr klug ist.«
Sie nickt und erinnert sich.
»Klar, nur kann sich die Anklage eigentlich nicht zu viel Zeit lassen, weil es darum geht, Beweismaterial zusammenzukriegen«, sagt Hudson.
Sie hält inne und blickt auf.
»Das ist mir klar«, sagt Dr. Lerner. »Aber das Mädchen soll zumindest am Anfang die Möglichkeit haben, sich uns in ihrem eigenen Tempo zu öffnen, bis sie sich sicherer fühlt.«
»Was war das gerade mit dem Beweismaterial?«, fragt Reeve den Deputy.
»Ich arbeite für Jackie Burke, die Staatsanwältin. Sie würde auch gerne mit Ihnen sprechen.«
»Warum mit mir?«
»Weil sie wissen möchte, wie es mit den Cavanaughs vorangeht. Sie ist daran interessiert, die Anklageerhebung gegen Vanderholt zu beschleunigen.«
»Der Entführer.«
»Der Verdächtige, richtig.«
Sie setzt sich etwas aufrechter hin. »Sie erwarten also, dass die Staatsanwaltschaft bekommt, was sie für eine Gerichtsverhandlung braucht, indem Tilly über Einzelheiten spricht?«
»Machen Sie sich aber bitte klar, dass es sich um einen allmählichen Prozess handelt«, sagt Dr. Lerner zu dem Deputy. »Wir müssen Tilly ein gewisses Maß an Verschwiegenheit zusichern, damit sie anfangen kann, das zu verarbeiten, was ihr passiert ist.«
»Und aufhört, sich selbst die Schuld zu geben«, fügt Reeve hinzu.
»Moment mal.« Hudson blickt sie fragend an. »Wieso in aller Welt sollte sie auf die Idee kommen, sich selbst die Schuld zu geben?«
Reeve seufzt. »Entführungsopfer, die lange festgehalten worden sind, betrachten sich üblicherweise irgendwann als mitschuldig oder denken, dass sie zu ihrer Entführung beigetragen haben.« Sie wirft Dr. Lerner einen Blick zu, als ihr klarwird, dass sie wie ihr eigener Therapeut klingt.
»Tatsächlich?«
Sie zuckt die Achseln. »Die Medien machen es noch schlimmer, wenn sie fragen, warum das Opfer denn geblieben ist – als hätte das Mädchen die Wahl gehabt.«
Hudson legt den Kopf schief. »Sie meinen, wie Beth Goodwin, die mit ihren Entführern in der Öffentlichkeit herumgelaufen ist?«
»So ungefähr.«
»Ist es das, was man als Stockholm-Syndrom bezeichnet?«
»Meistens, ja«, sagt Dr. Lerner. »Aber dabei handelt es sich mittlerweile um ein Schlagwort, das für jede Art von Geiselnahme oder Gefangenschaft verwendet wird, auch wenn es längst nicht immer passt.«
»Wieso nicht?«
»Nun ja, weil es sich nur um einen Aspekt von etwas handelt, was man allgemeiner posttraumatische Belastungsstörung nennt.«
»Ach ja. PTBS«, sagt Hudson. »Also ist das eigentlich dasselbe? Mehr oder weniger?«
»Nein, eher weniger. Das Stockholm-Syndrom ist kein diagnostischer Terminus, und posttraumatische Belastungsstörung ist ein so umfassender Begriff, dass er an einem bestimmten Punkt nicht mehr aussagekräftig ist.«
Hudson grinst. »Man hört, dass Sie Professor sind.«
»Verzeihen Sie, wenn ich doziere.«
»Nein, bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin vielleicht nicht der Klügste, aber ich möchte begreifen, worum es geht. Warum spricht man denn überhaupt vom Stockholm-Syndrom, wenn es nicht einmal ein – wie sagten Sie? – diagnostischer Terminus ist?«
»Gute Frage. Der Begriff wurde vor Jahren durch einen schwedischen Kriminologen geprägt, der untersuchte, wieso eine Gruppe von Geiseln bei einem Banküberfall in Stockholm Sympathie für die Geiselnehmer entwickeln konnte.«
»Aber sie wurden nur fünf Tage lang festgehalten«, wirft Reeve ein.
»Ja,
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