Und Nachts die Angst
geographisch als auch zeitlich«, antwortet er.
»Oh. Stimmt.«
Er seufzt. »Wie auch immer. Ich hoffe jedenfalls, dass sie sie nicht fragen.«
»Wieso nicht?«
Ja. Wieso nicht?
»Es wäre zu hart für sie.«
»Dad. Sie ist inzwischen erwachsen. Sie kann damit umgehen.«
»Nein. Sie war so stark traumatisiert.«
Reeve überlegt, ob sie sich aufsetzen und bemerkbar machen soll, aber ihre Neugier siegt, und sie bleibt reglos liegen.
Ihr Vater fährt fort. »Wusstest du, dass sie noch immer zu Dr. Lerner geht?«
»Immer noch?«
»Ja. Einmal die Woche. Ich glaube, sie ist unter der coolen Fassade noch ziemlich fragil.«
»Dad, sie ist nicht aus Porzellan. Sie hat Biss. Und sie hat ihre eigene Wohnung. Ich meine, klar, du zahlst einen Teil davon, aber sie ist schon viel unabhängiger, oder nicht?«
»Aber sie ist so isoliert, Rach. Sie hat kein Gesellschaftsleben, soweit ich das sehen kann, und ich mache mir Sorgen um sie. Es ist, als ob sie sich in einen Panzer eingeschlossen hat.«
»Aber sie gliedert sich doch gut ein. Sie hat Arbeit und …«
»Nicht mehr.«
»Was?«
»Sie hat den Job verloren.«
»Oh, Mist, schon wieder? Das tut mir leid.«
»Ja, mir auch. Aber dann auch wieder nicht. Ich wünsche mir immer noch, dass sie zurück aufs College geht.«
Rachel schnaubt. »Du hast recht. Sie sollte Berkeley unbedingt eine zweite Chance geben. Schließlich ist sie diejenige mit dem dicken IQ.«
Beide schweigen einen Moment, und Reeve liegt reglos da und hofft, dass die beiden endlich gehen.
»Das College täte ihr bestimmt gut«, sagt Rachel schließlich.
Ihr Vater gibt einen zustimmenden Laut von sich. »Aber sie konnte sich wohl einfach nicht richtig einfügen.«
»Sie hat es auch nicht wirklich versucht, oder sehe ich das falsch? Mom hat es sich so gewünscht. Ich meine, wozu sonst die ganze Sache mit dem Treuhandfonds?«
»Ja, schon, aber …« Die Stimme des Vaters klingt, als käme sie von weit her.
»Sicher ist sie sozial noch unbeholfen. Aber trotzdem.«
»Na ja, wie auch immer. Sieh dich an, Kleines«, wechselt ihr Vater das Thema und klingt einen Hauch fröhlicher. »Du machst dich prima.«
Reeve hört, was wahrscheinlich eine Umarmung ist, wartet, bis die beiden das Zimmer verlassen haben, erhebt sich und tritt dann ans Fenster. Sie denkt an ihre Mutter, an ihr Leben, an Tilly Cavanaugh. Der Nebel schwappt grau und trostlos über die Dächer wie feuchter Rauch, und sie steht eine lange Weile da, betrachtet die ungemütliche Szenerie und überlegt, was sie tun soll. Schließlich geht sie hinaus, um ihren Vater zu fragen, ob sie sich seinen alten Jeep ausleihen darf.
12. Kapitel
Bezirksgefängnis von Jefferson
Freitag
R andy Vanderholt hört, wie der Schließmechanismus klickt, und hofft, dass man ihm ein verfrühtes Mittagessen bringt. Doch im Türrahmen steht ein Wachmann, der wie Mike Tyson aussieht. »Ihr Anwalt ist hier«, brummelt er und tritt zur Seite, um einen großen, dünnen Kerl mit leicht gebeugter Haltung hereinzulassen.
»Clyde Pierson«, sagt der Anwalt und streckt ihm eine Hand entgegen.
Vanderholt winkt mit den Fingern, und Pierson ruft den Wachmann zurück, damit er ihm die Gurte abnimmt.
Vanderholt setzt sich im Bett auf, rollt die Schulter und streckt sich. »Wo ist der andere?«, fragt er. »Ich hab doch schon mit einem Anwalt geredet, oder?«
»Bradley? Er hat nur die wichtigsten Informationen eingeholt. Er ist für mich eingesprungen, während ich in Urlaub war. Ab jetzt bin ich Ihr Verteidiger.« Pierson lässt sich auf einem Plastikstuhl nieder und stellt die große Aktentasche auf den Boden neben sich. Er öffnet sie und fragt: »Und? Wie geht es Ihnen?«
»Ich habe Hunger.«
»Das ist doch ein gutes Zeichen. Essen Sie, damit Sie wieder zu Kräften kommen. Wir wollen ja nicht, dass Sie noch einmal versuchen, sich auszuknipsen.«
Vanderholt setzt an, um etwas zu sagen, zieht dann aber nur ein Gesicht.
Pierson holt eine Aktenmappe aus seiner Tasche und klappt sie auf seinem Schoß auf. Ohne aufzusehen, sagt er: »Mr. Vanderholt, Sie waren also schon einmal im Gefängnis.«
»Ja, aber das war wegen Autodiebstahl, mehr nicht.«
»Also ein leichteres Vergehen, definitiv.« Der Anwalt blättert durch weitere Seiten und grunzt. »Schauen Sie, ich will hier nichts schönreden. Die Anklage hat Ihr Geständnis, ein Ermittlerparadies als Tatort und ein nettes, hilfloses junges Ding als Hauptzeugin. Sogar Fotos, die Sie selbst gemacht haben, Herrgott noch
Weitere Kostenlose Bücher