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Und Nachts die Angst

Und Nachts die Angst

Titel: Und Nachts die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Norton
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Cavanaughs wohnen, sieht sie die Fernsehwagen. »Oh, Mist.«
    »Tut mir leid wegen des Empfangskomitees. Vielleicht sollten Sie sich lieber ducken«, schlägt Hudson vor, doch sie schält sich bereits unter dem Gurt durch und legt sich auf die Rückbank.
    Das Fahrzeug wird langsamer, als sie sich dem Tor nähern. Sie hört, wie Wagentüren zugeworfen werden und Stimmen nach Dr. Lerner rufen und ihn um einen Kommentar bitten. Aber die getönten Scheiben bleiben oben, und Dr. Lerner kündigt sie über Handy bei den Cavanaughs an.
    Sie schließt die Augen. Als der Wagen sich durch den Pulk von Reportern schiebt und durch das schmiedeeiserne Tor rollt, unterdrückt sie die aufsteigende Ahnung, dass es ein Fehler war, hierherzukommen.

    Tillys Blick heftet sich vom ersten Augenblick an auf Reeve. Sie ist ein Strich in der Landschaft, hat langes, blondes Haar und ein Elfengesicht. Ihre Miene ist ernst und reglos, aber in ihrem rosafarbenen Flanellschlafanzug und den blauen Flauschsocken wirkt sie jünger als dreizehn.
    Mrs. Cavanaugh bietet ihnen Kaffee an, aber nur Deputy Hudson möchte einen und fügt höflich hinzu, dass er ihn in der Küche trinken wird, »damit Sie Gelegenheit haben, in Ruhe miteinander zu sprechen«.
    Sie sitzen in einem angenehmen Raum mit hoher Decke und Kamin, in dem ein Feuer brennt. Es duftet nach den Nadeln des großen Tannenbaums, der bereits in einer Ecke des Wohnzimmers steht, obwohl die Kartons mit Kugeln und Lichterketten daneben noch ungeöffnet sind. Bis auf einige farbenfrohe Ölgemälde, die offenbar alle vom selben Künstler stammen, ist das Zimmer eher sparsam dekoriert.
    Tilly hockt auf dem Sofa und wirkt zwischen ihren großen, grobknochigen Eltern, Gordon und Shirley Cavanaugh, sehr klein und zierlich. Eine Schale mit Süßigkeiten steht auf dem Couchtisch zwischen dem Sofa und zwei dick gepolsterten Sesseln, auf denen Dr. Lerner und Reeve sitzen.
    »Wir sind Ihnen so dankbar, dass Sie gekommen sind.« Mrs. Cavanaughs Gesicht wirkt feucht, aber ihre Miene ist offen und herzlich. Eine Hand liegt auf Tillys Knie, als müsse sie sich vergewissern, dass ihre Tochter wirklich zu Hause ist, und diese kleine liebevolle Geste versetzt Reeve einen sehnsüchtigen Stich. Sie weiß noch gut, wie sie selbst an diesem Punkt war. Die Erinnerung schiebt sich vor ihre Augen.
    Mr. Cavanaugh entschuldigt ihren Sohn, der mit Freunden unterwegs ist und daher nicht dabei sein kann. Und erst nachdem ein paar weitere Minuten lang höfliche Nichtigkeiten ausgetauscht worden sind, begreift sie, dass man von ihr erwartet, den Anfang zu machen. Plötzlich kommt ihr der Raum überheizt vor. Sie kneift in die taube Stelle ihrer Hand, fährt sich mit der Zunge über die Lippen und fängt an. »Ich bin mir nicht sicher, inwiefern ich wirklich von Nutzen sein kann, aber ich weiß in vieler Hinsicht, was Sie gerade durchmachen.«
    Sie begegnet den Blicken der Familienmitglieder und erzählt, was ihr in den Sinn kommt: Von der Rückkehr in ein Zuhause, das Geborgenheit bedeutete, ihr aber auch fremd geworden war. Dem Schock, dass die ältere Schwester erwachsen geworden war. Von der trostlosen Erkenntnis, so vieles verpasst zu haben.
    Zuerst, erzählt sie, habe sie mit einer absurden Sorge um ihren Peiniger gekämpft und gefürchtet, man würde sie bestrafen oder ihr die Schuld geben.
    Tillys graue Augen sind die ganze Zeit über auf sie geheftet, und Reeve erkennt sich selbst darin.
    Ihre Geschichte quillt hervor. Sie beschreibt die surreale Gerichtsverhandlung, die ständige Präsenz der Medien, das lange Warten auf das Urteil. Und als sie von der Schlaflosigkeit und den wiederkehrenden Alpträumen spricht, nicken alle stumm.
    »Meine Familie hat versucht, mir zu helfen, aber es kam mir trotzdem so vor, als könnte mich niemand verstehen. Ich habe mich total zurückgezogen.« Sie wirft Dr. Lerner einen Blick zu. »Mit meinen ehemaligen Freunden konnte ich nichts mehr anfangen. Zwar haben wir uns noch ein paarmal getroffen, aber ich kam mir vor wie eine Fremde, weil sie ohne mich zu Teenagern geworden waren, verstehen Sie? Ihr Alltag war die Highschool mit allem Drum und Dran, und bestimmt wollte auch keiner unsensibel sein, aber ihre Fragen gingen mir auf die Nerven, und was ich erlebt hatte, konnte niemand nachvollziehen. Mir kam es vor, als hätte man mir meine ganze Kindheit geklaut.«
    Die Eltern seufzen fast unisono, aber Tilly starrt sie nur reglos an. Das Mädchen sieht neben ihren Eltern so winzig aus,

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