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Und nehmen was kommt

Und nehmen was kommt

Titel: Und nehmen was kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ludwig Laher
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Frühstück. Wieder Antreten auf dem Flur, Abmarsch in die Klassen. Unterricht bis zwei, unterbrochen vom Mittagessen. Putzarbeiten im Zimmer, Jause. Um halb vier in den Garten: Pflanzen, umstechen, ernten. Oder auf den Sportplatz: Volleyball, Fußball, im Winter Eishockey. Oder, bei Schlechtwetter, Basteln, Geburtstags-, Weihnachtsgeschenke für die Eltern etwa, wenn solche vorhanden sind. Um halb sieben Abendessen, im Winter früher. Antreten immer und überall. Duschen, fernsehen, schlafen. Die jüngeren um acht, die älteren spätestens um zehn.
    An jedem Freitag ist Großreinemachen angesagt. Aufenthaltsräume, Stiegenhäuser, Gänge, Duschen, Toiletten, Klassen, Büroräumlichkeiten, alles wird auf den Kopf gestellt, es geht zu wie in einem Bienenstock. Dann die Wochenenden, je nach Lust und Laune ausgefüllt mit Aktivitäten auf den Sportplätzen, Laufen, Radfahren, Fußball, Tennis, Tischtennis, im Winter Schlittschuhlaufen, Eishockey, Rodeln. Hausaufgaben und etwas Gartenarbeit sind eingeplant, vor allem aber viel Faulenzen, im Park, auf dem Zimmer, beim Fernsehen, Musikhören, Lesen, bei Karten- und Brettspielen. Im Sommer werden an Samstagabenden manchmal Grillpartys veranstaltet, eine mehr als willkommene Abwechslung ist das für alle, denen ihr Schlechtpunktekontostand die Teilnahme nicht verbietet.
    Schwimmen lernen die Zöglinge im vierzig Jahre alten öffentlichen Bad der nahen Kleinstadt. Wenn das Wasser ausgelassen ist, ähnelt das einzige Becken in Monikas Augen einem riesigen grauen Suppenteller, mit sanft ansteigenden, gewölbten Wänden zum Rand hin und einem schiefen Boden. Wie ein kleiner, seines natürlichen Innenlebens beraubter See wirkt das weite, häßliche Betonmuldenrund vor dem Hintergrund uralter Scheunen, mächtiger, unverputzter Backsteinbauten, an deren Außenmauern zwei ausrangierte Traktoranhänger langsam im Unkraut versinken und vor sich hin rosten.
    Monika entwickelt einen erstaunlichen Ehrgeiz, kapiert schnell, wie man es anstellen muß, damit man nicht untergeht. Wie gern würde sie ihre neu erworbenen Künste im See von früher ausprobieren, wenn es die Großmutter noch und den Vater nicht gäbe. Ihr wird ein roter Punkt gutgeschrieben, in Zweierreihen geht es geordnet zurück ins Heim, vorne eine Erzieherin, hinten ein Turnlehrer.
    Die Kinder werden nach Kräften verwaltet, in absoluter Gleichförmigkeit vergeht die Zeit. Monika hat das gern, denn sie mag alles, was Gelegenheit zum Anhalten bietet, auch wenn es nur ein Zeitgerüst ist. Monika hat das überhaupt nicht gern, denn ihre bisherige Lebenserfahrung, ihr Temperament, ihr Widerspruchsgeist anerkennen letztlich keine Instanz neben ihr selbst. Hinnehmen ja, anerkennen nein. Auf ihre seelischen Bedürfnisse eingehen, Zuwendung um ihrer selbst willen, derlei ist nicht vorgesehen im Heim, nicht leistbar. Jeder neue Schnitt in den Arm ist ihr so auch eine wohltuende Bestätigung, daß letztlich niemand Macht hat über sie. Daß es allein an ihr liegt, ob und wann sie sich abberuft. Sie ist so groß, sie ist so klein.
    Eines Morgens wacht sie auf, und ihr Uhu ist weg. Sie weiß genau, beim Einschlafen lag er noch in ihren Armen, wo er immer liegt, sie sucht ihn überall, fragt die Mädchen in ihrem Zimmer, ob ihr vielleicht wer einen üblen Scherz bereitet habe, alles vergeblich. Sie wendet sich an die Erzieherin, die von den Kindern Aufseherin genannt wird. Die Frau eröffnet ihr ungerührt, sie habe das Stofftier, während sie schlief, verschwinden lassen. Sie sei nun doch schon viel zu groß dafür, fast zwölf, und deshalb werde sie den komischen Vogel auch nicht mehr zurückbekommen, das müsse sie einsehen. Still fängt Monika zu weinen an, dreht sich um und geht. So ist das also, die Erwachsenen gehen einfach her und treiben dir von einem Tag auf den anderen dein Kindsein aus. Punkt, basta. Nehmen dir weg, was du lieb hast, weil das angeblich vernünftig ist und gut. Nehmen dir weg, was dir gehört, obwohl du ohnehin kaum etwas besitzt. Monika ist unendlich traurig und unendlich wütend. Die nächste Woche findet sie keine Ruhe in der Nacht, am Tag ist sie übermüdet, unleidlich, aggressiv. Gegen andere, in erster Linie aber gegen sich.
    Das Leben ist ein einziger Kampf. Monika zweifelt mehr denn je, daß er sich bezahlt machen könnte. Aber sie kämpft ihn, bis auf weiteres wenigstens. Ihre vielen Wunden tragen ihr Staunen und Scheu ein. Sie sieht, spürt, daß sie bei den Heimkindern Respekt genießt, weil sie

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