Und nehmen was kommt
Immerhin ein klares Gerüst zum Anhalten, auch wenn man schön blöd wäre, sich jedem Paragraphen sklavisch unterzuordnen. Monika möchte auch so souverän sein wie der Direktor. Würde sie jemand nach ihrem Berufswunsch fragen, das tut aber niemand, wie aus der Pistole geschossen käme die Antwort: Am liebsten Advokatin, denn sie hat erfahren, daß der Direktor eigentlich Jurist ist, oder, wenn ihr Hirn dafür nicht reichen sollte, eben Fußballerin, Ballettänzerin oder Rapperin.
Vor dem Büro des Direktors wird getuschelt, was der Grund für die Vorladung sein könnte. Sie erraten ihn nicht: Denn der kleinen, staunenden Schar wird eröffnet, daß sie schon in Kürze Ausländer sein werden, wenn nicht vorsorglich etwas unternommen wird dagegen. Das Land, in dem sie geboren wurden und leben, wird es nämlich bald nicht mehr geben, es wird in zwei Länder aufgeteilt, in eines, wo sie zur Welt kamen, und eines, wo das Kinderheim liegt. Monika hat nur recht vage Vorstellungen davon, was ein Staatsgebilde ist. Für die Roma war derlei nie besonders interessant, sie lebten seit ewigen Zeiten dort und da, unter diesen Herren oder eben unter jenen. Klar, hier ist die Tschechoslowakei, das weiß jedes Kind. Nicht allzu weit entfernt liegt Deutschland, überlegt Monika, Amerika gibt es auch noch irgendwo und das böse Rußland.
Sie nimmt es gelassen hin, daß aus der Tschechoslowakei mit Jahresanfang die Tschechische Republik und die Slowakei werden sollen, aber sie hat kein Verständnis dafür, weil sie nicht versteht warum. Es ist wie mit der Menstruation. Die hat aber wenigstens mit mir zu tun, denkt Monika. Der Direktor meint, aus ihnen würden Tschechen werden, auch wenn sie Slowaken seien, weil das Heim das Sorgerecht ausübe und sie als ausländische Kinder Schwierigkeiten bekommen könnten, womöglich das Heim verlassen müßten, vielleicht sogar abgeschoben würden. Monika überlegt, sie alle, von denen hier die Rede ist, sind Roma, Zigeuner und keine Slowaken. Sie ist felsenfest davon überzeugt, Schwarze könnten auch keine Tschechen werden, nie und nimmer, wie soll denn das gehen?
Ihr Lieblingsprogramm im Fernsehen ist eine Vorabendserie über einen jungen feschen Rom, der sich in ein tschechisches Mädchen verliebt hat. Weder seine Familie noch die ihre wollen von dieser Beziehung etwas wissen. Alle werfen den Liebenden Prügel vor die Füße, dazu kommt noch die kulturelle Kluft, mit der sich das Paar an sich schon schwer genug tut. Es ist abzusehen, daß die Sache schlecht ausgehen wird.
Der Direktor besteht darauf, sie alle würden jetzt einen tschechischen Paß bekommen, und das wäre ein Anlaß, dankbar zu sein. Monika will nicht dankbar sein, ihr ist es egal, ob sie einen Paß bekommt oder nicht, was soll sie mit einem Paß? Ihr ist es egal, ob sie Tschechin wird oder Chinesin, davon wird die Mutter auch nicht lebendig. Nur daß der Vater in Zukunft im Ausland lebt, Ausländer ist, ein Fremder also, wenn sie diese neue Grenze ziehen, dieser Gedanke gefällt ihr ganz ausgezeichnet.
Wenn Monika vor dem Fernseher mit den Serienhelden mitfiebert, lehnt sie seit einiger Zeit ihren Kopf an ein nur wenig älteres Mädchen. Die beiden unterhalten sich nicht sonderlich viel, aber sie verstehen sich distanzlos, schlingen die Arme umeinander. Monika spürt, wie Darina zart über das Auf und Ab ihrer Narbenlandschaft streicht. Sie wundert sich, daß ihr das recht ist, ziemlich angenehm sogar an manchen Tagen. Am Wochenende mischen die Freundinnen sich nachmittags ungeniert unter die ganz Kleinen, um alte tschechische Märchenfilme zu genießen: Sie leiden mit dem armen, aber selbstbewußten Aschenbrödel und tuscheln über den gutaussehenden Prinzen, frieren im hohen Schnee der Jagdszenen und träumen sich am Schluß in Ball- und Hochzeitskleid der Braut. Aber selbst heiraten wollen sie nie.
Das Verhältnis zu ihrem Bruder ändert sich dadurch nur wenig. Vielleicht steht Jaroslav nicht mehr ganz so im Mittelpunkt ihres Denkens und Fühlens, vielleicht ist es nicht länger Monikas selbstverständliches Bedürfnis, ihm Schwierigkeiten möglichst aus dem Weg zu räumen, vielleicht nimmt sie sich mehr als früher bloß in die Pflicht, auf ihn zu schauen, vielleicht spürt er das auch und bemüht sich deshalb umso mehr um sie. Er weiß, daß Monika sich seit langem eine Gitarre wünscht, und bastelt ihr aus Holz etwas, das Saiten hat und dem sich sogar Töne entlocken lassen, einigermaßen wohlklingende Töne sogar.
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