Und nehmen was kommt
klassizistisches Schloß aus untergegangenen Monarchietagen, mit seinen beiden Stockwerken und den gar dreistöckigen Seitenflügeln, der beste Platz zum Leben, den Monika sich bei ihren Voraussetzungen ausmalen kann. Sie hat ausreichend und regelmäßig zu essen, saubere Kleidung, ein eigenes Bett, mit fünf anderen, unterschiedlich alten Mädchen ein helles, hohes Zimmer, dessen riesige, allerdings zugige Fenster je Flügel durch marode Holzsprossen in drei Scheibenflächen unterteilt sind. Darüber thront noch eine Oberlichte. Im Vergleich dazu war ihre Vergangenheit unbeschreiblich dunkel. Monika sieht das einzige kleine Fensterchen des Elternhäuschens vor sich, die stets dämmrige Atmosphäre des einzigen Raumes, den flackernden Kerzenschein der Abendstunden und seinen bescheidenen Lichtkegel.
An das windschiefe Gebäude kann sie nicht denken, ohne daß ihr die Menschen einfallen, mit denen sie es bewohnte, die es lebendig machten. Dauernd hört sie, sie müsse ihr Zigeunersein hinter sich lassen, weil Zigeunersein schlecht sei, aber seit damals in der Siedlung hat sie nirgendwo mehr so viel Genügsamkeit erlebt, die ja nicht nur Faulheit, Untätigkeit, Lange-weile bedeutete, sondern auch Zeithaben, Gelassenheit, Leichtigkeit und die Lust, Feste zu feiern, wie sie fallen, zu musizieren, zu tanzen, zu essen und zu trinken, das freilich oft übermäßig.
Und wie die tote Mutter als Idol mit Heiligenschein, als Fluchtpunkt aller Sehnsüchte in Monika mehr und mehr Raum einnimmt, gewinnt auch der Vater weiter an Statur, als entgegengesetzter Pol allerdings. Läßt sie sich ein auf die Erinnerung an die Umgebung der frühen Kindheit, dann fühlt sie für kurze Momente eine starke Verbundenheit zu Kultur und Lebenspraxis der Roma, aber da tritt sofort der Vater auf den Plan, als zerstörerischer Bösewicht, als feiger Macho, als Inkarnation aller Zigeuneruntugenden, die das Heim seinen Schützlingen austreiben will.
Stell dir vor, dein Vater hat sich gemeldet, erfährt Monika einmal aus heiterem Himmel, er wird euch bald abholen und zu sich nehmen. Sie erschrickt heftig und spürt klar wie nie zuvor, daß in ihr alle Brücken abgebrochen sind. Um keinen Preis der Welt möchte sie dorthin zurück, wo sie zum ersten und einzigen Mal mit sich eins war. Selbst zur Großmutter als fixer Größe ihres Bildes von sich selbst muß sie innerlich Distanz legen, denn die überdimensionierte, verhaßte Figur des Vaters hat Mutters Mutter in Geiselhaft genommen. Wochenlang fürchtet sie sich vor seiner Ankunft und einer neuen Etappe ihres Irr- und Leidensweges, schläft noch weit schlechter als sonst, greift in kürzeren Abständen zu den Scherben, aber er läßt sich nicht blicken. Wir werden ihm im Suff einmal kurz eingefallen sein, legt sich Monika eine Erklärung zurecht. Und ebenso schnell wird er uns wieder vergessen haben.
Das Gefühl, wo hinzugehören, ist Monika auf Dauer genommen. Unterhält sie sich mit einer schwarzen Freundin heimlich auf romanes, sind weitere Schlechtpunkte und lautstarke Abmahnungen vorprogrammiert, sollten einer Erzieherin hinter der Ecke Gesprächsfetzen ans Ohr dringen. Es sind alte Roma-Lieder, von einigen der Mädchen im Park zweistimmig gesungen, die jemanden vom Anstaltspersonal dazu bringen, bei der Heimleitung eine Ausnahme für den jährlich stattfindenden internen Musikwettbewerb zu erwirken. Mit fünf anderen Mädchen und zwei Buben studiert Monika ein kurzes Programm ein, das die Kinder selbst zusammenstellen. Von Keyboard und Gitarre begleitet, singen und tanzen die Mädchen traditionelle Weisen. Alle tragen sie dabei weite, bunte Blusen und lange, eigenhändig für den Anlaß genähte rote Röcke, die ein bißchen an überkommene Romakleidung erinnern. Der Erfolg ist durchschlagend. Sie gewinnen den ersten Preis, und Monika ist zum ersten Mal gleich um fünf Rotpunkte reicher. An der grundsätzlichen Haltung des pädagogischen Teams gegenüber minderwertiger Zigeunerkultur ändert das aber rein gar nichts, folkloristisches Singen auf zigeunerisch wird ab jetzt geduldet, Alltagskonversation jedoch bleibt streng verboten. Monika beginnt, ihre Muttersprache zu vergessen, nicht aber ihre Mutter.
Jeden Morgen werden sie um Punkt halb sieben geweckt, in fester Reihenfolge besetzen die sechs Zimmergenossinnen jeweils kurz das Waschbecken: Katzenwäsche, Zähneputzen und Kämmen. Um sieben Antreten auf dem Flur, auf ein Zeichen der Erzieherin gemeinsamer Gang in den Speisesaal zum
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