Und Rache sollst du nehmen - Thriller
Leben langsam, aber sicher aus ihm herausgewürgt wurde.
Das Letzte, was er auf dieser Erde sah, war seine eigene rechte Hand.Jemand riss sie nach oben und hielt sie ihm vors Gesicht. Auf dem Handrücken glänzten rote Blutspuren,
die zittrigen Finger waren schneeweiß. Während seine Sicht langsam verschwamm, erkannte er noch eine nagelneue Gartenschere. Ihre Klingen legten sich um seinen kleinen Finger. Und schlossen sich. Ein tödliches Zuschnappen, das ihm die Augen zudrückte und seine Zukunft kappte. Ein sauberer Schnitt, gefolgt von endloser Dunkelheit. Mach’s gut, Fleet Street. Mach’s gut.
Zum Schluss versetzte Kirkwood dem toten Journalisten einen Tritt in die Eier. Er ragte schwer atmend über ihm auf, mit blutigen Knöcheln und weit aufgerissenen Augen, Schuldgefühl und Selbstgerechtigkeit standen ihm in riesigen Lettern ins Gesicht geschrieben. Die Hülle des weltläufigen Geschäftsmanns im maßgeschneiderten Anzug war abgefallen. Hier lauerte wieder das Tier, das sich von der Asher Street hochgekämpft hatte, die ungezähmte Bestie, der Kneipenschläger, der streunende Hund. Von Maryhill bis Castlemilk, vom Drum bis Easterhouse würde jeder wissen, dass man einen hohen Preis zu zahlen hatte, wenn man Alec Kirkwood verärgerte. Oder Hand an einen der Seinen legte.
Doch dieser letzte Tritt, dieses Tüpfelchen auf dem i, war kaum vollendet, als der Garagenhof von Licht und Lärm und Menschen überflutet wurde. Als ob Kirkwoods Stiefelspitze den Einsatz gegeben hätte.
Sirenengeheul und gebrüllte Kommandos kündigten die Ankunft der ehrbaren Strathclyde Police an.
Zwei Fliegen, eine Klappe. Zwei Fliegen, die die Klappe halten würden.
Ein Wahnsinn mit Methode.
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The Herald, Freitag, 15. Mai 2010. Seite 1.
Von Andrea Faulds
Der Serienmörder, der Glasgow seit über zwei Jahren in Atem gehalten hat, wurde am gestrigen Tag enttarnt: Es handelte sich um den stadtbekannten Journalisten Keith Imrie, den Chefreporter des Daily Record. Er soll für alle sechs Morde verantwortlich sein. Imrie (32) erlag am Dienstagabend den Folgen eines mutmaßlichen Angriffs, der seither selbst zum Gegenstand eines Berichts an die Staatsanwaltschaft geworden ist. Wie aus Polizeikreisen verlautete, wurde die Suche nach weiteren Tätern im Zusammenhang mit den sogenannten Cutter-Morden abgebrochen.
Ersten Berichten zufolge wurden bei Imries Leiche mehrere Beweisstücke sichergestellt, die eine direkte Verbindung zu den Mordtaten belegen, darunter Gegenstände aus dem Eigentum der Opfer. Imries Kollegen beim Daily Record zeigten sich äußerst erstaunt, als sie von der Neuigkeit erfuhren. Den Mitarbeitern im Büro der Zeitung am Central Quay wurde untersagt, sich gegenüber der übrigen Presse zu äußern. In der heutigen Morgenausgabe des Record tritt Imrie lediglich als namenloser »Journalist« in Erscheinung.
Der 32-Jährige hatte durch zahlreiche Exklusivberichte über den Cutter Aufsehen erregt. Dabei war es ihm immer wieder gelungen, vor seinen Mitbewerbern an Informationen zu gelangen, häufig sogar vor der Polizei. Aufgrund seiner exklusiven Meldungen über den Serienmörder wurde er schließlich zum Chefreporter befördert.
Vor Kollegen soll Imrie mehrfach mit seinen Insiderinformationen angegeben und verkündet haben, dass er im Gegensatz zur Polizei über wirklich hochkarätige Quellen verfüge. Die gestrigen Enthüllungen verleihen dieser Prahlerei eine grausige Glaubwürdigkeit.
Diese dramatische Wende hat der Schreckensherrschaft des Cutters ein unvermitteltes Ende gesetzt. Über zwei Jahre lang hat die Stadt in Angst vor dem Mörder gelebt, der einen Menschen nach dem anderen tötete. Dabei schlug er scheinbar wahllos zu – die Polizei konnte keinerlei Verbindung zwischen den Opfern herstellen. Durch die Mordserie rückte die Stadt unfreiwillig in den Fokus der Weltpresse, erst recht, nachdem das barbarische Markenzeichen des Cutters, die Verstümmelung seiner Opfer, öffentlich geworden war. Was nun bekannt wird, ist eine Ironie der Geschichte: Der Cutter selbst hatte seine Methode enthüllt. Imrie wurde wiederholt von verschiedensten Medien aus aller Welt interviewt, seinen Kollegen zufolge sonnte er sich in der ungewohnten Aufmerksamkeit. Damals schien sein Verhalten nachvollziehbar – schließlich war hier ein ehrgeiziger Journalist urplötzlich ins Rampenlicht gerückt –, doch nun glauben viele, dass die Auftritte des Killers als kaltschnäuzige Verspottung der Staatsmacht und der
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