Und sie wunderten sich sehr
ist er mit uns im gleichen Boot, mit uns auf der Fahrt neuen Ufern entgegen, bei uns auch, wenn, wie hier auf dem See, Nacht und Sturm hereinbrechen.«
Die Szenerie im vierten Kapitel des Markusevangeliums ist eindrücklich: In Seenot geratene Fischer, an und für sich raue Burschen – so rau wie die Hirten –, verlieren vor Angst die Fassung. Mit nichts in der Hand, aber einem Schrei auf den Lippen hocken sie auf den Planken – so wie vielleicht die Hirten, als sie den Himmel taghell werden sehen. Zurück aufs Meer: Der geweckte Passagier, eben noch schlief er wie ein Baby, antwortet auf diesen Schrei entsetzter Fischer. Dass die Elemente dieser Welt auf wundersame Weise Frieden geben, Leben bewahren, das hat etwas zutiefst Weihnachtliches, in der Tat! Bewahrung im Tosen der Wellen, Bewahrung in kalter Nacht in einer Höhle, ein bisschen wärmer vielleicht durch die Anwesenheit Wärme gebender Tiere, während draußen die Weltzeit unheilvoll weiterzieht.
Anhalten können im Überlebenskampf, Stille finden in der hinteren Ecke einer dürftigen Unterkunft für wenige Stunden. Ist es weihnachtlich, dass selbst die Wasser für einige Momente stillhalten, ein kaputtes Flugzeug tragen und herausdrängende Menschen nicht verschlingen, sondern dem Leben zurückgeben? Verwunderlich? Ja! Real? Ohne Frage! Weihnachtlich? Warum nicht!
Mindestens so weihnachtlich wie die Zeugenaussagen des Kapitäns eines deutschen Frachters. Auch seine Wahrheit ist nachlesbar und beschäftigte die Gemüter zur Weihnachtszeit. Auch mich: Was ich lese, passt so gar nicht zur saumseligen Stimmung am Morgen des zweiten Weihnachtstages. Vor Gericht sollte der Kapitän berichten, was sich vor einem halben Jahr auf seinem Frachter zugetragen |95| hatte. Sein Protokoll liest die Nation mit. Nüchtern und ohne jedes Stocken in der Stimme erzählt er seine Version von der wundersamen Lebensrettung:
Seine Mannschaft sollte die Ladung durch gefährliches Wasser an der Küste Somalias bringen. Es kommt wie befürchtet: Der Frachter wird überfallen. Die Mannschaft kann sich noch in den fest verschließbaren »Panikraum« retten. Das hat sie ihrem geistesgegenwärtigen Kapitän zu verdanken. Der vermochte es, noch kurz vor dem Überfall Hilfe per Funk herbeizurufen. Nach einem Gefecht müssen sich die Piraten ergeben. Dann suchen die bewaffneten Helfer die Mannschaft. Die niederländische Spezialeinheit läuft suchend durch die Gänge und ruft: »Wir sind hier um zu helfen. Sie sind sicher.«
Aber die Mannschaft öffnet zunächst nicht; es könnte ein Trick der Piraten sein. Doch schließlich öffnet der Kapitän die Luke; er hatte niederländische Sprachfetzen vernommen. So hört er die gute Nachricht – und noch am Tag der Rettung setzt das Schiff seine Fahrt fort.
»Wir sind hier um zu helfen. Sie sind sicher.« Ein Rettungsruf noch hinter dicken Wänden der Panikräume zu hören. Und wenn die Weihnachtsgeschichte so ein Rettungsruf wäre? »Euch ist heute der Heiland geboren. Er ist hier, um zu helfen. Sie sind sicher« Aber ich bleibe lieber sitzen und warte ab in meinem Panikraum. Kann ich der Nachricht trauen? Irgendetwas darauf geben?
»Wir sind hier, um zu helfen. Sie sind sicher.« Ich kenne viele Menschen, die im vergangenen Jahr in ihren eigenen »Panikräumen« festsaßen und auf den Ruf nichts mehr gaben. Ich denke an die vielen Tüchtigen, nunmehr Dauererschöpften. Von ihnen erzählt ein alter Freund. Er ist Arzt. Seine Patienten, erfolgreich und erschöpft, können nur eines im Leben schwer akzeptieren: sich helfen zu lassen, die Luke aufzumachen …
»Wir sind hier, um zu helfen. Sie sind sicher!«
Ich denke an den 4 0-jährigen Vater, ein Studienkollege. |96| Im Ausland versprach er sich einen viel besseren, weniger steinigen Berufsweg. Aber der führte ins Nirgendwo. Nur der eigene Tod war noch ein Ausweg, der keiner war.
»Wir sind hier, um zu helfen. Sie sind sicher.« Ich denke an eine Freundin, die neben den drei Kindern die demenzkranke Mutter versorgt – jeden Tag eine Stunde Autofahrt hin, eine zurück – für zwei Stunden Pflege: füttern, waschen, erzählen, Fußnägel schneiden. Wie lange das noch so gehen kann? Aber wie rauskommen aus diesem fest abgeriegelten Raum der Verpflichtungen? Wie soll das gehen: sich helfen lassen?
»Wir sind hier, um zu helfen. Es wird gut.«
Ich sehe im Weihnachtsereignis kein altes Märchen, sondern höre einen Rettungsruf, der mich in den Gängen meines eigenen Lebenstankers
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