Und sie wunderten sich sehr
Besserwisser geben! Was will sie ihrer jungen Anhalterin nun erklären: Dass sie mehr daran glaubt, er lebt, als dass er gelebt hat?
1:12 Uhr – eine reichliche Stunde vor Berlins Stadtgrenze … Es ist vielleicht nicht ganz der passende Zeitpunkt. Aber wird ein passenderer kommen? Erzählen davon, dass die Geschichte von vor 2000 Jahren die Geschichte einer geglückten Begegnung ist, wenn auch nur für Augenblicke irdischer Zeit. Erzählen davon, dass diese Begegnung dann schließlich durch allertiefstes Unglück gegangen ist – dramatisch eben, wenn Gott und Welt zusammentreffen? Wenigstens versucht Ella sich darin.
Sie – bemüht um jedes einzelne richtige Wort – will davon |89| erzählen, dass sie das Zeichen dieser einzigartigen Begegnung von damals zwischen Gott und Mensch sieht, weil sie ihm zutraut, dass es wirkt, auch in die bedeutungslosesten Begegnungen hinein.
»Was denn für ein Zeichen?«, unterbricht die munter gewordene junge Frau einfach alle stammelnden Bemühungen.
»Na ja, ein Kind im Arm ist nicht einfach ein Kind im Arm.«
Ob dieser Satz falsch ankommt? Ella versucht es noch einmal anders:
»Ein Mensch unter ziemlich bescheidenen Verhältnissen geboren, schließlich angebetet nicht nur von der eigenen Mutter, sondern von wildfremden Hirten; und schließlich von Fernreisenden verehrt, das sagt noch etwas anderes als das, was man an der Oberfläche sieht.«
»Schon klar«, erwidert sie: »Die Hirten kommen von draußen …«
Von draußen zu kommen … davon kann sich die Anhalterin ein erschreckend klares Bild machen.
»Bringen sie nicht etwas mit, als sie Jesus besuchen?«
»Nein, das sind nicht die Hirten; die haben ja schon selbst so gut wie nichts. Die Magier galten da schon als etwas vermögender; und die kamen ebenfalls angereist. Wahrscheinlich Sterndeuter. Manche nennen sie auch Weise oder Könige. Die bringen eigentlich lauter bedeutungsvolle und kostbare Dinge mit. Weihrauch, Myrrhe, Gold – Hinweise darauf, wie sehr sie Jesus verehren. Das sind auch Zeichen dafür, dass man ihn für einen König gehalten hat; darum hat man ihm Gold gebracht. Und man hat in ihm einen Menschen gesehen, der heilen kann. Darum die Heilpflanze: Myrrhe. Wird heute noch bei Entzündungen eingesetzt. Hilft sogar bei Bronchitis oder wenn Sie eine Narbe haben, die verheilen soll. Es gab Zeiten, da war Myrrhe sehr beliebter Parfum-Stoff, aber wahrscheinlich für die Wenigsten erschwinglich …«
Ella macht eine kurze Pause. Die nutzt die Zuhörerin |90| und meint: »All diese Dinge werden ihm am Ende das Leben nicht erhalten. Kein Geschenk dieser Welt kann das.« Da hat sie nun wirklich Recht, zumindest, was die Geschenke anlangt, die sich Menschen gegenseitig machen. Das versucht Ella ihr und irgendwie auch sich selbst zu sagen.
Aber die Anhalterin ist mit ihrem Gedanken noch nicht fertig:
»Das müssen Sie doch zugeben: Von den Geschenken Gottes hat man herzlich wenig. Kann man sie anfassen, festhalten? Nein! Man sieht einfach so wenig davon.«
Genau. Weihnachten hat so wenig mit Sehen und Festhalten zu tun. Deshalb ja all die Düfte, die schönen Lieder, Rezepte und Dekorationen, damit wir uns eben an etwas festhalten können.
»… that there is a link between the two, being crazy and being close to you …«
Die Beifahrerin ist wieder still geworden. Ob sie an die Verrücktheiten und Zwänge der Welt da draußen denkt. Geht auch noch ein Gedanke zur eigenen Mutter, gefangen in Zwängen und Lieblosigkeit? Wer weiß?
Jetzt ist es Katie Melua, die Ella ermüdet. Also bekommt die CD endlich ihre schwer verdiente Pause.
»Hier können Sie halten«, hört Ella ihre Mitfahrerin sagen. Da sehen sie beide die ersten Lichter hinter der Berliner Stadtgrenze.
Beide steigen aus.
Eisige Luft greift die Frauen an. Binnen Sekunden frieren sie beide. Ella hievt den schweren Rucksack auf den Bürgersteig. Der ist mittlerweile mit erstem Schnee bedeckt. Noch ist der weiß und rein. In ein paar Stunden wird sich das geändert haben.
Zur Verabschiedung die Hand zu reichen wäre ihr wahrscheinlich zu viel, vermutet Ella.
»War nett, dich mitzunehmen … ähm …«
»Jette. Ich heiße Jette.« Jetzt will Ella ihr doch sehr gern |91| die Hand geben – so von Mutter zu Mutter; die junge Frau zögert und nimmt sie dann schließlich an.
»Wann ist euer Termin?«
»Morgen, gegen zwei Uhr.«
»Ich wünsch dir einen schönen Nachmittag mit Henri!«
»Na ja, ich habe irgendwie noch nichts, was ich ihm
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