Und sie wunderten sich sehr
kümmern sie sich wirklich um mich. Ich war ja nicht die einzige Schwangere ohne Wohnung und ohne Mann. Mal sehen, was es für Neuigkeiten gibt, wenn ich da morgen früh ankomme … Mich hat sogar schon mal ein Journalist interviewt und gefragt, wie ich es im Kontaktladen finde …« Ella hört zu und stellt sich gleichzeitig einen kleinen Jungen irgendwo in einer bestimmt sehr sorgfältig eingerichteten Altberliner Villenetage vor und …
»Henri ist sehr süß. Er bekommt jede Menge Extrabetreuung und irgendwelche Extrastunden, hat Daniel mal zu mir gesagt. Damit er aufholen kann, was in seiner Entwicklung noch nicht so gut klappt … Genau weiß ich das aber auch nicht. Sebastian meint, Henri müsse lernen, zu wem er gehört. Er muss lernen, einen Unterschied zu empfinden zwischen fremd und vertraut. Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, aber ich habe ein gutes Gefühl, glaube ich. Die beiden würden Henri nie Druck machen, auch später nicht, meine ich. Sind beide so klug. Aber mit mir reden sie nicht so viel. Das Meiste geht ja übers Amt.«
Mütterlichkeit war für Ella eigentlich bisher mehr als die Einsicht, dass das eigene Kind »sehr süß« ist. Aber das ist ihr Gefühl. Die Anhalterin erlebt das eben anders. Was für |87| eine Mutter wäre Ella mit 20 Jahren gewesen? Welche Fehler hätte sie gemacht? Es wären bestimmt andere als die einer 3 0-jährigen Mutter.
»This is the closest thing to crazy I have ever been …«
Natürlich kann Ella nicht anders, als in diesen Nachtstunden, so kurz vor den Weihnachtstagen, an die Familie irgendwo in einer Notbleibe in Bethlehem zu denken. Doppelvaterschaft hat das Kind, das in dieser Notbleibe zur Welt kam, ebenfalls kennen gelernt. In Gedanken stellt sie sich die ganze »heilige« Familie vor – die von damals, und die, von der sie gerade erfahren hat: heilig und besonders, anders als die anderen Familien. Zwei Väter im Doppelpack, eine wahrscheinlich wohnungslose Mutter ohne Sorgerecht, mit der es ab und an einen Treff auf dem Spielplatz gibt, ein Kind, das schon fast allein laufen kann, namens Henri. Und wahrscheinlich zwischendrin die eine oder andere Frau vom Amt. Familiäre Zusammensetzungen können so verschieden sein. Henri – so klein er auch heute noch ist – steht wahrscheinlich für beides, Glück und Schmerz. Das Glück für zwei Männer, von ihrer ganzen Fürsorge so viel weiterschenken zu können, der Schmerz über das, was auf Mutterseite offen bleibt. Vorerst. Alles kann sich ja noch ändern.
Doppelvaterschaft verbindet das Kind in der Krippe mit Henri – wenn auch nur von sehr fern. Später in der biblischen Überlieferung wird das Kind der einen Mutter und der zwei Väter zum Schmerzensmann. Ein Junge namens Jesus. Ein Junge, von dem Novalis einmal gesagt hat, er sei die »unendliche Frucht« einer »geheimnisvollen Umarmung«. Das ist für unsere Zeit viel zu fremd, um noch als romantisch gelten zu können. Romantik klingt für meine mittlerweile eingenickte Mitfahrerin wahrscheinlich auch anders. Was wird Henri einmal sagen, wenn er antwortet auf die Frage, woher er kommt?
Woher komme ich, wem verdanke ich mich? Wem bin ich geschenkt?
Wird er sich einmal selbst solche Fragen stellen?
|88| Dass der Himmel aber noch immer auf geheimnisvolle Weise umarmt, kann Ella nicht mehr ausschließen, wenn sie die junge Frau aus dem Augenwinkel ansieht. Ella hält es für möglich, der Himmel umarmt in seiner ganzen Geheimniskrämerei auf sehr verschiedene Weisen – vielleicht auch eine wohnungslose junge Frau mit grünen Haaren.
Diese Haare! Wie kleine Hoffnungstupfer auf dem Kopf, wie ein Frühlingszeichen in einer kalt gewordenen Welt.
»O Erd’ schlag aus, / schlag aus o Erd’, / dass Berg und Tal grün alles werd’ …« Das passt nun so wenig zu Katie Melua wie zur Beifahrerin aus Lichtenbergs Plattenbau. Aber für Ella ist es nun mal das einzige Weihnachtslied, das den Frühling in die Weihnachtstage holt. Jetzt bewegt sich der Kopf. Die junge Mutter reibt sich die Augen.
»Ob wir bald da sind?«
»Das dauert noch. Sagen Sie Bescheid, wenn wir mal wieder halten sollen …«, bietet Ella an.
Das Angebot kommentiert sie nicht weiter. Aber irgendetwas scheint sie zu beschäftigen, ein Gedanke, der ihr zwischen Schlafen und Wachwerden gekommen sein muss: »Glauben Sie, dass Jesus vor 1000 Jahren gelebt hat? Müssen Sie wahrscheinlich bei dem Beruf.«
»2000. Es sind 2000 Jahre.«
Was wird die Pfarrerin jetzt hier den
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