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Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina-Maria Bammel
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dieser Stadt nicht so richtig zu Hause ist, obwohl sie seit 20 Jahren dieselben Straßen und Gegenden erlebt. Ihre Heimat ist Köln. Was sie von dort weggetrieben hat, war die eigene Scham. Als sie davon erzählen möchte, bebt sie wie ein Mensch, nach dem die Kälte greift.
    »Es war nicht auszuhalten!«, erinnert sie sich – die Ansteckung, dann ihre Erkrankung, die Arbeitsunfähigkeit. Da war sie Mitte 20. Wodurch sie sich infizierte, den Sex oder die Spritzen, im Abstand der Jahre wird das egal. Das Ergebnis ist eine endlose Krankenakte, die Leber so gut wie ruiniert. Als sie merkte, wie ihr der Verstand immer öfter »wegzurutschen« drohte, griff die Angst nach ihr.
    |102| Bewusstseinsveränderung nennt das die medizinische Dokumentation. Heute weiß sie nicht, was schlimmer war, der Wahn der Angst oder der Wahn, der sich mit solchen Wörtern wie Enzephalopathie verbindet. So nennen Ärzte ihr Leiden.
    Mehr weiß sie dazu auch nicht zu sagen. Wahrscheinlich hat man oft und wiederholt mit ihr darüber gesprochen – in Kliniken und Ambulanzen. Immerhin kann die kaum Wortgewandte mit solchen Begriffen umgehen, doch nur um einen Satz später wieder an Wortfetzen hängen zu bleiben. Manchmal machen ihre Wörter Sprünge, haben die Sätze Risse. Man spürt ihr die Grenzen dessen, was sie zu sagen vermag, sofort ab. Hin und wieder verstummt sie einfach so, mitten in einem Gedanken.
    »Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht Angst spüre, besonders die Angst, ich würde nur noch aus verödeten Gefühlen bestehen.« Die das sagt, hat so viel Gefühl in ihrem Blick und eiskalte Hände: »Tut mir leid; eigentlich friere ich immer.«
    Ich will ihren Worten möglichst wenig glauben und dem vertrauen, was ich sehe. Hepatitis ist der Gegner ihres Körpers. Der erste Freund wurde ihr zum Feind. Er hatte sie angesteckt. Vorsätzlich. Selbst ist er vor zehn Jahren gestorben, doch sie trägt sein krankes Erbe mit in ihrem Körper. Dieses Erbe bedeutet auch, keine leiblichen Kinder haben zu können. An ihrer Stimme spüre ich, dass sie noch immer versucht, sich mit all diesen Fakten zu arrangieren, so gut es eben geht. Manchmal ist aber gar nichts gut: Mit Kindern darf sie noch nicht einmal ehrenamtlich arbeiten. Selbst Sterbende im Hospiz darf sie nicht begleiten. Das hätte sie zumindest gern getan, doch die Nähe zu Morphium und Opiaten wäre eine zu große Versuchung und Gefährdung für die ehemals suchtkranke Frau.
    »Manchmal frage ich mich, ob mein damaliger Freund schuld ist oder ich selbst. Kann ich ihm wirklich die Schuld daran geben, dass ich nie die sein konnte, die ich wirklich |103| bin?« Die Frage lässt sich für sie nicht beantworten – mal weint sie um ihn, mal um sich selbst.
    Das erste Leben ist damit eigentlich erzählt. Heute hat Anne zwei Berufe, genauer gesagt: zwei Verdienstquellen – eine tagsüber und eine in der Nacht. Acht Stunden am Tag sortiert sie Gehaltsabrechnungen und macht Botengänge durchs Haus einer kleinen Organisation. Es ist die nur für wenige Monate stabile so genannte 1-Euro -5 0-Basis pro Stunde. Abends und nachts wird ihre sehr übersichtliche Wohnung zur Anlaufstelle für Männer, die besser, aber längst nicht gut zahlen. Ihrem jetzigen Freund macht das nichts aus. Der ist an den betreffenden Wochentagen bei seinem kranken Vater – in irgendeinem Brandenburger Dorf, eine Stunde Autofahrt weit weg. Der Vater brauche ja jemanden, der ihn wenigstens hin und wieder mal wäscht, ihm Zigaretten kauft und die Fingernägel schneidet.
    »Mein Freund macht das wirklich gut und sehr einfühlsam.«
    Unterdessen bringen ihr dann drei bis vier Nachtstunden Arbeit den größten Teil der Miete einer ofenbeheizten Ein-Zimmer-Wohnung ein, Hochparterre, zweiter Hof. Abzuziehen sind davon noch die Annoncen-Kosten in der Zeitung. Die sind natürlich auch nicht billig. Das Berliner Verlagswesen verdient recht ordentlich an den Inseraten professionell angebotener Körpernähe. Schließlich will dann auch noch der Freund vom Rest des Verdienstes etwas sehen. Und was dann noch bleibt, ist wirklich für sie.
    »Was bleibt denn noch so«, frage ich Anne. Ich meine mit der Frage mehr als die Zahlen. Sie versteht das und erzählt: »Was bleibt, ist meine Gruppe. Da habe ich gelernt, dass ich etwas gelte. Die meisten dort sind an mir interessiert. Sie haben Geduld, wenn ich etwas erzähle. Das ist schon das Wichtigste für mich. Wir kochen und feiern zusammen, gehen auch mal gemeinsam ins Kino. Das hält

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