Und sie wunderten sich sehr
hinter sich und sucht sich den Weg über die Treppe nach oben zur Orgelempore. Das große Licht will sie dafür nicht anschalten. Dementsprechend lange dauert es, die in Jahrhunderten ausgetretenen Stufen hinaufzukommen. Draußen muss nicht gleich jeder sehen, dass sie Nacht für Nacht auf der Orgelbank sitzt. Kaum jemand hört sie. Die Töne aus den Pfeifen bleiben in der nachtschwarzen, eiskalten Kirche hängen. Wenn es dann, was oft vorkommt, zu spät geworden ist für den Weg nach Hause, wartet sie in der dunklen Kirche auf den Morgen. Kurz vor fünf Uhr, das weiß sie, kommt der Hausmeister und macht seinen Rundgang. Vorher verschwindet sie.
|123| In den Dezembernächten hängt ein leuchtender Stern genau in der Mitte der Kirchendecke. Per Automatikschaltung beginnt er seine Leuchtarbeit in den Morgenstunden und kurz vor 22 Uhr abends stellt er den Leuchtbetrieb wieder ein. Die Studentin weiß, wie man die Automatik ausschaltet, damit der spitzzackige Herrnhuter in rot und gelb auch nach 22 Uhr leuchten kann. Er ist natürlich zu klein, um irgendetwas hell zu machen in der großen Kirche. Aber es entsteht zumindest so etwas wie ein freundlicher Lichtzacken. Den ahnt sie dann im Rückspiegel, der an der Orgel befestigt ist.
Hin und wieder, wenn sie zu lange geübt hat und zu erschöpft ist, fürchtet sie sich vor diesem Rückspiegel. Sie fürchtet sich vor Gesichtern, die plötzlich aus der Kirchennacht auftauchen könnten, unheilige Fratzen. Immer wieder hat man ihr mit besorgtem Tremolo, dunklen Blicken und gerunzelter Stirn das Unheil vorgebetet – die Eltern, der Arzt, der es natürlich sehr ernst und sehr gut meint. Bestimmt! Allen Mut muss sie dann zusammenkratzen, um sich selbst zu beruhigen und Richtung Spiegel zu sehen. »Es ist nichts – nur das Zackenlicht des kleinen Sterns. Niemand und nichts lauert auf dich. Selbst die Gespenster der Tage von gestern und vorgestern wollen mal schlafen.«
Sie schafft es, länger wach zu bleiben als die Gespenster. Sie überlistet sie alle mit Schlaflosigkeit – und mit den Noten und Abfolgen, die noch in Kopf, Hände und Füße müssen. Die Kantorei braucht Begleitung – ordentlich und möglichst fehlerfrei, das letzte Vorweihnachtskonzert für dieses Jahr steht an. Sie wird es an der Orgel begleiten: »Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen, lass dir die matten Gesänge gefallen.« An ihr soll es nicht liegen!
Sie übernimmt fast jeden Auftrag, ist so gut wie immer zu Diensten, wenn sie nur irgend kann. Ob jemand noch etwas anderes an ihr wahrnimmt als ihre Verfügbarkeit? Sie hat in der Tat was von einem Continuo; erst wenn er nicht mehr da ist oder aus der Reihe tanzt, fällt er auf. Sie ist der Generalbass der anderen. Das ist 100 0-mal besser, als der |124| schiefe Ton in den Harmonien derer zu sein, denen das Leben so umstandslos von der Hand geht.
Das mit dem umstandslos leichten Leben würde sie gern mal für sich behaupten. Sie hat längst hingenommen, dass es immer lichtloser werden wird, dass die Hell-Dunkel-Unterschiede schon jetzt und dann wohl auch zukünftig immer schwerer auszumachen sind. Ihr persönliches Gespenst heißt Diabetes und führt eines nahen Tages in die völlige Dunkelheit. Sie weiß das. Gegen dieses Wissen und die Dauerklagen der Mutter hat sie sich gewehrt – immer wieder – gegen das Spritzen, gegen das Einhalten der Zeiten. »Du zahlst den Preis …«; diesen Satz hätte ihre Mutter ruhig in Stein meißeln können.
Was nützt es der Studentin zu wissen, dass es ein paar Tausend allein in Deutschland sind, denen es genauso geht. Sie hat versucht, die Sache mit den Spritzen, die permanenten Untersuchungen und das ständige Ausfüllen von Tabellen aus dem Alltag zu drücken. Das Klavierspielen war dafür bestens geeignet. Später wurde es die Orgel. Keine übliche Pflicht wie die Pflicht anderer Kinder, die ein »Instrument lernen müssen«. Das Instrument war ihr wie eine Höhle, in die sie sich verkriechen konnte – vier Stunden, fünf oder sechs. Wenn sie heute lange genug spielt, sieht sie die Welt aus Kindertagen – den kleinen Balkon vor dem Wohnzimmer; einen Garten gab es nicht; das Gesicht ihrer Erzieherin damals im Kindergarten mit fröhlichen Grübchen um Mund und Augen, das frisch aufgeschlagene Bett in ihrem Zimmer, bevor sie hineinspringen konnte. Sie hasst ihre Angst bei dem Gedanken, dass sie eines Tages all diese Bilder tatsächlich nur noch im Innenauge sehen wird. Wird sie wirklich blind sein?
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher